Der Beginn einer Trilogie

Dein Gesicht morgen

Wollte man den Inhalt von Marías neuem Roman erzählen, genügten drei Sätze: ehemaliger Lektor für spanische Literatur in Oxford, kehrt nach missglückter Ehe an seine Wirkungsstätte zurück, wo er überraschend vom britischen Geheimdienst angeworben wird.

"Sie war sehr nützlich, diese Fähigkeit oder Gabe, während des Krieges, sie ist unschätzbar in Kriegszeiten, deshalb wurde sie damals organisiert und kanalisiert, sie wurde bewusst aufgespürt."

...erklärt Sir Peter Wheeler, der ehemalige Mentor von Jaime Deza und zweite Schlüsselfigur in diesem Roman über das Schweigen und die Macht der Worte.

Noch jemand weiß Dezas Fähigkeit zu schätzen: Der geheimnisvolle Mr. Tupra, der Deza für den britischen Geheimdienst anwirbt.

Die Fähigkeit zu schweigen

Das Ambiente rund um diese drei Protagonisten ist kühl und emotionslos, und wer sich einen Spionageroman à la John Le Carré erwartet hat, wird herb enttäuscht. Den Autor interessiert der Mensch als Träger und Verräter von Geheimnissen, seine Fähigkeit zu schweigen ebenso wie seine unbedachte Redseligkeit.

"Man sollte niemals etwas erzählen"
...lautet denn auch der erste Satz in Marías Roman. Und das genaue Gegenteil wird auf den folgenden knapp 500 Seiten passieren. Es wird viel erzählt, aber die aufkeimende Spionagegeschichte verzichtet auf herkömmliche Spannung.

Das Mögliche und Denkbare

"Dein Gesicht morgen" spielt auf rein intellektueller Ebene und ist fesselnd durch seine sprachliche Vielfältigkeit.

Das Spiel mit dem Möglichen und Denkbaren ist zuletzt nur eine Übung für eine wohl niemals zu bewältigende Aufgabe: die Wahrheit zu erkennen. Für den 53jährigen Javier Marías, der bereits mit 15 seinen ersten Roman schrieb und dem mit "Mein Herz so weiß" der internationale Durchbruch gelang, ist der vorliegende Roman ein Traktat mit einer Fülle philosophischer und linguistischer Denkanstöße.

Verrat unter Freunden

Ganz nebenbei hat der spanische Autor auch noch eine Hommage an seinen Vater, den Philosophen Julián Marías, in die Handlung integriert. In einem langen Gespräch zwischen Deza und Professor Wheeler geht es um den Spanischen Bürgerkrieg. Der Vater des Protagonisten wurde damals von einem seiner besten Freunde denunziert und landete daraufhin im Gefängnis.

Ein ähnliches Schicksal hatte Dezas kommunistisch engagierter Vater: Auch er wurde vom besten - politisch gleich gesinnten Freund verraten und entging nur dank eines glücklichen Zufalls der sicheren Haftstrafe.

Wie viel Wahrheit verträgt der Mensch?

Marías stellt die Frage: Wie viel Wahrheit verträgt der Mensch? Wie viel Wahrheit ist dem Einzelnen zumutbar? Der Schriftsteller in einem Interview:

"Es gefällt uns nicht zuzugeben, dass wir eigentlich blind sind, selbst Menschen gegenüber, die wir glauben zu kennen. Und daher rührt dieser Widerspruch: einerseits wollen wir alles vorhersehen, egal ob es das Wetter ist, oder ob wir uns mit allen möglichen Versicherungen das Leben absichern. Auf der anderen Seite wollen wir etwas Voraussehbares, das nicht in unser Bild passt, wegleugnen."

Erster Band einer Trilogie

Die Handlung ist äußerst sparsam. Eine Nacht und der darauf folgende Morgen bilden den Zeitrahmen dieses Buches. Späte und frühe Stunden eignen sich besonders gut für tiefe Gedanken und das Sinnieren an sich.

"Dein Gesicht morgen" ist der erste Band einer Trilogie von Javier Marías. Er ist in der Übersetzung von Elke Wehr bei Klett-Cotta erschienen. Übrigens: der zweite Teil wurde eben erst in Spanien unter dem Titel "Baile y sueno", zu deutsch: Tanz und Traum, veröffentlicht.

Download-Tipp
Ö1 Club-Mitglieder können die Sendung nach Ende der Live-Ausstrahlung im Download-Bereich herunterladen.

Buch-Tipp
Javier Marías, "Dein Gesicht morgen", übersetzt von Elke Wehr, Klett-Cotta, ISBN 360893636