Das Leben der Ostjuden
Hiob
In diesem Buch ist Joseph Roth das bemerkenswerte Kunststück gelungen, ein Märchen zu erzählen und doch einen Roman zu verfassen. Die Geschichte des ostjüdischen Lehrers Mendel Singer ist einfach, und es handelt sich auch um einen einfachen Mann.
8. April 2017, 21:58
Vor vielen Jahren lebte in Zuchnow ein Mann namens Mendel Singer. Er war fromm, gottesfürchtig und gewöhnlich, ein ganz alltäglicher Jude.
So beginnt das Buch, und im Titel ist auch das Schicksal des Helden enthalten: Zwar verliert er nicht so wie der biblische Hiob neun Söhne und Töchter, aber auch ihn trifft das Unheil in kräftiger Dosierung: Drei Söhne, eine Tochter muss der arme Mann durchbringen.
Geschichte einer Familie
Ein Sohn geht zur russischen Armee, der andere wandert nach Amerika aus und kann dort der Familie ein angenehmes Leben in Aussicht stell Den jüngsten Sohn, den behinderten Menuchim, müssen sie zurücklassen, eine Ursache ständiger Selbstvorwürfe für den Vater.
Doch im Krieg fallen die beiden älteren Söhne, der eine in der russischen, der andere in der amerikanischen Armee, und die Tochter gerät auf Abwege und wird geisteskrank. Mendel Singer hadert mit dem Schicksal, doch da tritt wie durch ein Wunder Menuchim wieder auf - er ist geheilt, zu einem höchst erfolgreichen Musiker geworden und kann dem alten Vater nun doch noch den Lebensabend sichern.
Das Leben der Ostjuden
Reduziert man das Buch auf den bloßen Inhalt, kann man ihm nicht gerecht werden; entscheidend ist, wie Joseph Roth mit dieser Materie umgeht, die leicht in den Untiefen der Sentimentalität auf Grund gehen könnte.
Zunächst hat Joseph Roth das Leben der Ostjuden im zwanzigsten Jahrhundert als einer der ersten Autoren thematisiert. "Ostjuden auf Wanderschaft" heißt eine seiner wichtigsten Schriften; diese und der Roman "Hiob" können als die ersten bedeutenden Exponenten der Migrationsliteratur gelten, die ein zentrales Phänomen der Gegenwart und jüngeren Vergangenheit betreffen: Man denke an Roths Freund Soma Morgenstern, vor allem aber an den Nobelpreisträger Isaac Bashevis Singer.
"Verlorene Annalen"
Es sind dies, wie Joseph Roth sagt, die "verlorenen Annalen" der Ostjuden, die in diesem Roman rekonstruiert werden. Die Kürze ist das Ergebnis der bestechend präzisen kurzen Situationsschilderungen, mit denen Roth des Leben im Schtetl charakterisiert und seine Figuren scharf porträtiert.
Meisterhaft die Darstellung der Frau Mendels Deborah: Dieses Buch kann als das Muster neusachlicher Prosa gelten, und lässt doch diese weit hinter sich. Hier ist nichts zu viel; jedes Wort trifft, und so wird auch das unglaubliche gute Ende glaubhaft.
Keine Hintergrundinformationen
Offenbar wollte man aber beim Verlag auf diese ästhetisch bedingte Kargheit mit einer vermutlich ökonomisch bedingten Sprödigkeit reagieren: So erfährt man nicht einmal das Datum der Erstausgabe, nämlich 1930; statt dessen wird als Jahr 1974 angeführt, in dem das Buch bei Kiepenheuer & Witsch erschien.
Keine Spur von einem Nachwort, das über den Autor und diesen Roman informierte, keine Sacherklärungen, die uns den Text näher bringen könnte. Soll damit der Eindruck erweckt werden, es handle sich um ein Werk aus unseren Tagen? Das Buch ist so zeitgemäß und unverbraucht, dass es solcher schamhaften Manöver nicht bedarf. Und das Publikum sollte man nicht so simpel düpieren.
Buch-Tipp
Joseph Roth, " Hiob", Kiepenheuer & Witsch 2004, ISBN 3462034057