Visionen, Gemeinsamkeiten und Unterschiede

Umbau statt Abbau

Im Zeitalter der Globalisierung scheint das Modell der sozialen Wohlfahrt ausgedient zu haben. Sind mehr Leistung und weniger Fürsorge das Motto der Zukunft? Und: Sind soziale Unterstützungen Gnade oder Recht des einzelnen Bürgers?

Statement Sascha Liebermann

Wie sieht die Zukunft unseres Sozialstaates aus? Unter dem Motto "Von der Gnade zum Recht" hat die Arbeiterkammer Oberösterreich zu einem internationalen Historiker-Kongress geladen. Referenten aus Europa, aber auch aus anderen Kontinenten haben dabei über künftige Entwicklungen auf dem Arbeitssektor wie über neue soziale Modelle und Bewegungen im globalisierten Weltsystem gesprochen.

"Freiheit statt Vollbeschäftigung"

Der Dortmunder Soziologe Sascha Liebermann fordert beispielsweise ein bedingungsloses Grundeinkommen für alle Bürger. Mit einem Grundeinkommen gäbe es keine Arbeitslosigkeit. Auch die Vereinbarkeit von Familie und Beruf wäre kein Problem mehr. Die Arbeitgeber - so Liebermann's visionärer Entwurf - müssten künftig um die Arbeitnehmer werben und nicht umgekehrt. Gleichzeitig wäre ein umfassender Abbau der Bürokratie - auch in den Sozialsystemen - möglich und weitestgehend bestehende Sozialleistungen würden ersetzt:

"An ein bedingungsloses Grundeinkommen sollten aber nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten eines Bürgers gebunden sein, wie etwa die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen. Persönliche Krankenkassenbudgets beispielsweise würden die Eigenverantwortung des Einzelnen stärken, und sinnlose Arztbesuche würden vielleicht unterbleiben. Auch die Medikamentenkosten ließen sich auf diese Weise reduzieren."

Die finanzielle Komponente lässt Liebermann nicht gelten. Dies seien bloße Abwehrreaktionen westlichen Länder. Hier gehe es nicht um vorhandene Werte finanzieller Natur, sondern um Krisenbewältigung und Diagnosen für die Zukunft. Zu visionär, zu utopisch?

Skandinavisches Erfolgsrezept

"Die Mehrgenerationenfamilie ist ein soziales Auslaufmodell. Trotzdem kann die europäische Gesellschaft nicht auf die Sozialarbeit verzichten, die vor allem in den Familien geleistet wird. So liegen heute 80 Prozent der Altenpflege und Altenbetreuung nach wie vor im häuslichen Bereich - und zwar vor allem bei den Frauen. Die Mehrfachbelastung der Frauen durch Kinder, Altenbetreuung und Beruf schafft ein Ungleichgewicht",

sagt Nils Edling vom Institut für Zeitgeschichte der Universität Stockholm in Schweden. Wie sieht sein Erfolgsrezept aus?

"Der Schlüssel zum Geheimnis des skandinavischen Wohlstandes sind die Kompromisse, die zwischen den Unternehmern und den Gewerkschaften geschlossen wurden. Mit Ausnahme Norwegens haben die skandinavischen Länder eine Arbeitslosenversicherung, die über die Gewerkschaften läuft. Die Unterstützungen werden zwar von den Steuern bezahlt, die man dem Staat entrichtet; diese Gelder werden aber von den Gewerkschaften verwaltet. Das hat zur Folge, dass wir einen hohen Anteil an Gewerkschaftsmitgliedern haben: In Island sind das bis zu 80 Prozent der Bevölkerung, in Dänemark, Finnland Schweden etwa 78 bis 80 Prozent."

Modell-Voraussetzungen

Trotzdem komme das unternehmerische Denken in Skandinavien nicht zu kurz, meint der Sozialwissenschafter Tapio Bergholm von der Universität Helsinki. Frühere Staatsbetriebe wie der öffentliche Verkehr oder die Telekommunikation seien heute privatisiert. Bereiche wie das Gesundheitswesen oder den Bildungssektor wolle man aber unter staatlicher Kontrolle behalten. Die Kritik am skandinavischen Modell, dass ihm das unternehmerische Denken fehle, sei falsch - so Bergholm. Es sei die Gleichheit der Möglichkeit, die individuelle Möglichkeiten schaffe. Wenn wir beispielsweise Klassenunterschiede im Schulsystem aufrecht hielten, schlössen wir talentierte Menschen aus, die zufällig arm seien, und könnten ihr Potential nicht nutzen.

Der Sozialstaat funktioniert nur auf der Basis einer florierenden Wirtschaft. Die Wirtschaft wiederum lebt von hoch qualifizierten, motivierten und zufriedenen Arbeitnehmern. Dieser Balanceakt zwischen sozialem und unternehmerischem Denken ist offensichtlich in den skandinavischen Ländern verwirklicht.

Und jenseits des Kontinents?

Wirft man einen Blick in andere Kontinente, sieht man sich völlig anderen Ausgangssituationen gegenüber. In China beispielsweise hat sich erst in den vergangenen zwei Jahrzehnten die Gesellschaft umstrukturiert und die freie Marktwirtschaft ihren Einzug gehalten. Das rasante Wachstum löste soziale Krisen aus. Immer mehr Menschen zogen in die Städte. Ökonomen sprechen von einer versteckten Arbeitslosigkeit von 150 Millionen ländlichen Arbeitskräften. Um die soziale Stabilität Chinas zu erhalten, hat nun die Regierung ein "Anti-Poverty-Program“ beschlossen, erklärt Minje Zhang von der Wirtschaftsuniversität Hangzhou:

"Trotz Modernisierung der Gesellschaft hat sich die Ökonomie in China nach wie vor nicht besonders stark entwickelt.Viele Menschen leben unter der Armutsgrenze. Deswegen ist es in China jetzt besonders wichtig, soziale Sicherungssysteme zu entwickeln. Mit der staatlichen Geburtenkontrolle hat China heute eine Geburtenrate von 1,8 Kindern pro Frau erreicht. Der Anteil der über 65-Jährigen liegt bei 7,1 Prozent; er wird sich in den nächsten 15 Jahren verdoppeln. Deshalb glaube ich, dass wir vor allem auf den Wert und die Funktion der Familie nicht verzichten können."

Schwerpunkt Familie auch in Indien und Singapur

Auch der Sozialwissenschaftler und Demograph Rajagopadal Dhar Chakraborty von der Universität Calcutta sieht die Zukunft der Altersvorsorge und -betreuung in den Familien:

"In Indien gibt es wie in China eine sehr ähnliche Lebensphilosophie. Im Hinduismus, aber auch im Budhhismus und anderen indischen Religionen gilt das Prinzip des Respekts den Alten gegenüber. Auch in Singapur hat man herausgefunden, dass Programme, die die Familie nicht berücksichtigen, in der asiatischen Gesellschaft nicht sehr effektiv sind. Dort gibt es bereits staatliche Unterstützung für jene Erwachsene, die ihre Eltern bei sich aufnehmen - inspiriert von der chinesischen Politik, nämlich dass die Älteren von den Jüngeren betreut werden sollten."

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