Der Augenblick des eskalierenden Egoismus

Menschen töten

Mörder oder Kriegsverbrecher werden in Medienberichten oft als Monster oder "Nicht-Menschen" bezeichnet. Doch wer mit Tätern spricht, merkt, dass die Pauschalurteile nicht haltbar sind: Sie sind Menschen, die eine Grenze überschritten haben.

Seit dem 11. September 2001 und dem Irakkrieg stellt sich mit wachsender Dringlichkeit wieder die Frage, warum Menschen einander töten, und ob sich das vermeiden lässt. Es bringt für das eigene Leben als Individuum in der Masse einen enormen Erkenntnisgewinn, sich mit dem Töten einmal abseits von Sensationsjournalismus, Floskeln und Vorurteilen auseinander zu setzen.

Pauschalurteil "Monster"

Im November 2003 ist ein "Radiokolleg" zum Thema "Töten" gelaufen. Es handelte vom "privaten" Mord und Totschlag in einer Friedensgesellschaft und von der Todesstrafe. Diesmal, im zweiten Teil des Projekts, geht es um jene Kontexte des Tötens, die täglich die Schlagzeilen füllen: Terrorismus, Krieg, Kriegsverbrechen. Auch das seltene Phänomen des "serial killer" (Serienmörder) - nur 0,5 bis ein Prozent aller Morde werden von Serientätern begangen - kommt diesmal zur Sprache.

Das Töten ist uns auch in Österreich nah: Die Weltnachrichten erzählen ständig davon. Das Töten ist den meisten von uns unendlich fern: Mörder oder Kriegsverbrecher werden in pauschalierendem Automatismus als Monster, als "Nicht-Menschen" apostrophiert. Bei Nazi-Verbrechen spricht man vom "unvorstellbaren" Grauen. Indem man diese Spielarten menschlichen Verhaltens in eine quasi extrahumane Sphäre verschiebt, kann man das Problem des menschlichen Tötungs-Potenzials bequem vom eigenen Erlebnishorizont fernhalten. Töten, das tun immer "die Anderen" - Verrückte, "minder-zivilisierte" Ausländer und andere.

Privileg Frieden

So lässt sich leicht aus der privilegierten Position eines nicht Krieg führenden westlichen Landes urteilen. Das größte Privileg besteht ja überhaupt darin, nie in eine Lage zu kommen, in der man zum Täter/Töter werden konnte - oder zum Leidtragenden, als Überlebender einer Tötungshandlung oder Angehöriger eines Opfers.

Wenn man Sie in einer Bürgerkriegssituation vor die Alternative stellte, einen Gefangenen zu erschießen oder selbst erschossen zu werden, was würden Sie tun? Noch dazu, wenn Sie eine Familie hätten, für die Sie weiterleben wollen? Solche Fälle haben sich in unserer Nähe, in Ex-Jugoslawien, mehrfach ereignet.

In Österreich hat heute nur ein winziger Prozentsatz der Bevölkerung direkt mit dem Töten zu tun. Die Zahl der Morde bleibt mit rund 150 pro Jahr seit Jahrzehnten stabil. Zum Vergleich: Rund 900 Menschen sterben jährlich bei Autounfällen, gut 1.700 begehen Selbstmord.

Grenzüberschreitungen

Wer mit Tätern spricht, merkt, dass das mit den "Monstern" nicht haltbar ist. "Für die Mehrheit gilt, das sind Menschen wie Sie und ich, die eine Grenze überschritten haben", sagt der Psychiater Patrick Frottier. Damit sollen die Taten keineswegs entschuldigt werden. Mord ist ein Augenblick des eskalierenden Egoismus. Nur wer ganz auf sich selbst fixiert ist, den anderen nicht gelten lässt, kann ihn umbringen.

Dorothee Frank hat für ihr Radiokolleg zum Thema "Migration, Asyl, Einbürgerung" den Leopold-Ungar-Preis in der Sparte Radio erhalten, wie auch Cornelia Krebs für ein "Journal Panorama". Damit gingen beide Radio-Auszeichnungen an Ö1 Produktionen.

Mehr zu Töten per Gesetz in oe1.ORF.at

Hör-Tipp
Radiokolleg, Montag, 27. November, bis Donnerstag, 30. November 2006, 9:05 Uhr

Download-Tipp
Ö1 Club-DownloadabonnentInnen können die Sendereihe "Radiokolleg" (mit Ausnahme der "Musikviertelstunde") gesammelt jeweils am Donnerstag der Ende der Ausstrahlung 30 Tage lang im Download-Bereich herunterladen.

Buch-Tipp
Dorothee Frank, "Menschen töten", Walter Verlag, ISBN 3530421979

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