Die Tradition verteidigen
Die Moso
Zwischen Tibet und China, dort, wo der Jangtse "Goldsandfluss" heißt, liegt der Lugu-See, der sich wie ein deformiertes Vanillekipferl an den Löwenberg schmiegt. Man könnte natürlich auch sagen, dass der Berg seine Tatzen ans Seeufer gelegt hat. Dort ist das Land der Moso.
8. April 2017, 21:58
Lugu-See und Löwenberg sind besondere Orte, heilige Stätten für das Volk der Moso, das es offiziell gar nicht gibt; im Katalog der anerkannten Minderheiten der VR China kommen die Moso nicht vor. Offiziell zählt China die Moso zur Nationalität der Naxi - und dabei bleibt es auch: Der 1990 gestellte Antrag der Moso, als eigenständiges Volk in die Nationalitätenliste aufgenommen zu werden, wurde 1993 abgelehnt, obwohl von kompetenter wissenschaftlicher Seite festgestellt wurde, dass beide Völker nur "zufällig" nebeneinander leben. Amtskram...
Das "Märchenland"
Die Moso und ihr Land sind den chinesischen Behörden sehr wohl ein Begriff, nicht nur, weil die Moso in den letzten Jahren attraktives Ziel für Völkerkundler geworden sind. Oder weil "das Märchenland", wie die Han das Mosoland nennen, als aufstrebende, für den Tourismus interessante Gegend gilt - für Tramper und Trekker bislang, aber das wird sich noch ändern. Oder weil die Grenze zwischen den Provinzen Yünnan und Sichuan geradewegs durch diesen See verläuft.
Nein, es ist die Art, wie die Moso im "Land der Töchter" zusammenleben. Sie escheint den Behörden des Kreises Ninglang so bemerkenswert, dass sie 2002 die Aufnahme des Lugu-Sees in die Liste des Weltkulturerbes der UNESCO beantragt haben - "wegen seiner landschaftlichen Schönheit und der Aufrechterhaltung eines einzigartigen matriarchalischen Systems des einheimischen Moso-Volkes".
Männer als zeitweilige Gefährten
Das Matriarchat: Frauen leiten den Familienverband. Frauen sind erbberechtigt. Worte mit "Frauenendungen" bedeuten das Größere, Stärkere, Attraktivere. Nicht klar? Die Kombination aus "Stein" und "weiblich" ergibt "Felsklotz", Stein und männlich nur "Kieselstein".
Frauen scharen ihre Verwandten um sich: Söhne und Brüder bleiben im Geburtshaus wohnen, auch wenn sie von einer Frau zum (zeitweiligen) Gefährten gewählt wurden. Ehe oder auch ein Zusammenleben von Mann und Frau in unserem Sinn gibt es nicht. Die "Freundin" wird nächteweise besucht, und wenn die Beziehung beendet ist, findet der Liebhaber seine Tasche an einem Haken vor der Tür - und weiß, dass er nicht mehr kommen soll.
Höchst nachahmenswert finde ich den Brauch, der verbietet, dass sich Verwandte anschreien. Wenn schon geschrieen werden muss, dann müssen die Hausschweine herhalten, oder Gegenstände, deren Seele man nicht verletzen kann - und die Überzeugung, dass (die meisten) Konflikte mit Hilfe von Liedern gelöst werden können.
Genug Tränen für ein ganzes Leben
Die Konflikte zwischen Yang Erche Namu und ihrer Mutter Latso und wiederum die Latsos mit ihrer Mutter waren jedoch so tief greifend, dass kein Lied helfen konnte, denn beide Konflikte zeugen von einer gesellschaftlichen Umwälzung im Leben der Moso: Latso schloss sich gegen den Willen ihrer Mutter den chinesischen Kommunisten an - und das, obwohl den "Chinesen", den Han, in der Kindererziehung der Moso die Rolle des "Schwarzen Mannes" übertragen wurde ("Wenn du nicht brav bist, holen dich die Han!").
Damit übertrat sie eines der wichtigsten Moso-Gesetze: Keine und keiner verlässt die Familie. Auch Latso wurde, etwa 20 Jahre später, von ihrer Tochter Yang Erche Namu verlassen. Yang Erche Namu studierte, wurde zum Star, arbeitete als Supermodel. Noch während ihres Studiums lernte sie einen Landsmann kennen, der heute als einer der angesehensten Akademiker Südchinas gilt.
Mit ihm und der amerikanischen Anthropologin Christine Mathieu versucht sie heute, das bedrohte Erbe, das bedrohte Wissen und die bedrohte Überlieferung der Moso zu bewahren. Das Buch "Das Land der Töchter. Eine Kindheit bei den Moso, wo die Welt den Frauen gehört", erschienen im Ullstein Verlag, widmeten die beiden Frauen ihren Müttern.
Buch-Tipp
Yang Erche Namu, Christine Mathieu: "Das Land der Töchter. Eine Kindheit bei den Moso, wo die Welt den Frauen gehört", Deutsch von Barbara Röhl, Ullstein Verlag, ISBN: 3550075782