Jede Menge Informationspartikel
Was täte ich ohne Radio?
Barbara Frischmuth mag es, in eine Sendung "hineinzugeraten". Es ist wie ein Spiel: Das Aufspüren des Kontextes, herauszufinden, wer z.B. der Autor des gerade besprochenen Buches ist, das hat für sie seinen ganz besonderen Reiz.
8. April 2017, 21:58
Eine Stimme zu hören, ohne den Menschen zu sehen.
Ja, tatsächlich: Was täte ich ohne Radio? Selbst auf Reisen nehme ich noch meinen alten Walkman, den ich vor 17 Jahren in den USA gekauft habe, mit. Man kann leider nicht mehr davon ausgehen, dass sich in jedem Hotelzimmer ein Radio befindet. Fernseher gewiss, aber Radio? Und wenn, kann es einem passieren, dass man nur den Musiksender reinkriegt, den so genannten Unterhaltungsmusiksender. Und der ist beinah genau so schlimm wie die allgegenwärtige Berieselung in Kaufhäusern, Restaurants, Zahnarztpraxen. Nicht einmal auf öffentlichen Toiletten bleibt man neuerdings verschont.
Auch ich liebe Musik, aber nicht jede. Und nicht ununterbrochen. Vor allem aber liebe ich die menschliche Stimme. Ich messe sie an dem, was sie mir sagt, erzählt, aufgibt, berichtet oder vorrechnet, und wie sie es tut.
Eine Stimme ohne den dazugehörenden Menschen, das heißt eine Stimme, die ich höre, ohne gleichzeitig den Menschen zu sehen, dem sie gehört, hat etwas Intimes, etwas Unmittelbares. Diese Stimme dringt ohne Umweg über vorgegebene Bilder in den Kopf, ins Bewusstsein. Dabei kommt es einem so vor, als würde man persönlich angesprochen als die oder der einzelne, der ihr womöglich über Kopfhörer lauscht, was ein Gefühl der Vertraulichkeit, manchmal sogar das der Vertrautheit erzeugt. Und dennoch ist diese Stimme diskret. Kein schlecht sitzender Anzug, keine Schweißperle irritiert, kein noch so sympathisches Lächeln macht zusätzlich Stimmung für das Gesagte.
Mir sind die Nachrichten im Radio lieber als die im Fenrsehen. Ich muss Leichen nicht aus der Nähe sehen, um zu begreifen, dass auf dieser Welt ununterbrochen getötet, gemordet und gestorben wird. Ich möchte mir ein Bild von den Vorfällen machen, ohne dem Zwang, den Bilder auf die Wahrnehmung ausüben, von vornherein ausgeliefert zu sein. Und ich mag es, wenn mir sachliche Hintergrundinformation geliefert wird, die sich nicht sogleich in den Vordergrund drängt.
Noch immer gibt es eine Reihe von Dingen, die man mit den Händen tun muss, mehr oder weniger mechanisch - bügeln ist so etwas, aber auch die Arbeit in der Küche -, dazu höre ich am liebsten Radio. Sendungen, die in meinem Kopf das Denken beschleunigen und die ich so oft wie möglich zu hören versuche. Manchmal brauche ich eine bestimmte Musiksendung, um endlich meine E-mail zu erledigen.
Abgesehen von den Sendungen, die zu hören ich mir vornehme, mag ich es auch, in eine Sendung hineinzugeraten. Ich merke dann, wie ich mich sofort daranmache, den Kontext aufzuspüren. Was nicht immer leicht ist, ohne Ansage und ohne bildliches Ambiente. Aber die menschliche Stimme ist nicht neutral, sie lässt auch auf nicht Gesagtes schließen. Es ist wie ein Spiel, in dem man die leeren Rubriken ausfüllt; das kann ziemlich anregend sein. Ich gebe mir dann immer einen Punkt, wenn ich zum Beispiel bei einer Büchersendung herausfinde, von welchem Buch die Rede ist, oder wer es geschrieben hat, auch wenn ich das Buch gar nicht gelesen habe. Die erhöhte Aufmerksamkeit, die dieses Spiel, wie jedes andere Spiel auch, erfordert, assoziiert je nach Stimmlage des Sprechenden jede Menge Informationspartikel. Was ich damit sagen will ist, dass man als Zuhörer wahrscheinlich aktiver am Gehörten beteiligt ist denn als Zuseher am Gesehenen. Mit einem Wort, ich bin einfach daran gewöhnt, Radio zu hören, und das täglich. Was täte ich also ohne Radio?