600 Millionen Teile

Das Stasi-Puzzle

Während des Zusammenbruchs der DDR wurden im Ministerium für Staatssicherheit millionen von Akten händisch zerrissen, um die Spuren der Stasi zu verwischen. Jetzt sollen diese Akten mit Hilfe von Computerprogrammen rekonstruiert werden.

Über die händische Rekonstruktion der Akten

Nur auf Grund des Einschreitens der Bevölkerung konnte die endgültige Vernichtung der brisanten Akten verhindert werden. 16.000 Säcke mit Papierschnipseln übergaben die Bürgerkomitees der BSTU, der bundesdeutschen Behörde, die sich um die Aufarbeitung der Stasi-Verlassenschaft kümmert.

600 Millionen Teile

Seit neun Jahren sitzen 24 Mitarbeiter dieser Behörde in Zirndorf bei Nürnberg an ihren Schreibtischen und versuchen, die Papierschnipsel händisch zu sortieren und wieder zusammenzusetzen. Rund 260 Säcke wurden bereits aufgearbeitet und 600.000 Blätter rekonstruiert.

Die wiederhergestellten Akten enthalten wichtige Informationen, die zur Enttarnung von Spitzeln und zur Aufklärung der Methoden der Stasi beigetragen haben. Das gesamte Puzzle aus rund 600 Millionen Teilen händisch zu vervollständigen, würde aber 600 Jahre dauern.

Automatische Puzzle-Fabrik

Bertram Nickolay, Leiter der Abteilung Sicherheitstechnische Erkennungssysteme am Fraunhofer Institut IPK in Berlin überlegte deshalb, ob die gewaltige Aufgabe computergestützt gelöst werden könnte.

Sein Team aus Fachleuten für Bildverarbeitung und die Rekonstruktion beschädigter Dokumente entwickelte ein Paket aus verschiedensten Computerprogrammen, die die virtuelle Rekonstruktion der zerrissenen Akten in fünf Jahren bewerkstelligen könnte. Um das Stasi-Puzzle in dieser Zeit zusammensetzen zu können, müsste allerdings eine regelrechte Puzzle-Fabrik errichtet werden.

Digitalisiert und geordnet

Da viele Papierschnipsel zerknittert sind, werden sie in Folien geschweißt, mit Hochleistungsscannern digitalisiert und von einem Verbund aus Hundert Rechnern bearbeitet. Um den Rechenaufwand möglichst gering zu halten, werden die Papierschnipsel zuerst nach Farbe, Beschriftung und dergleichen sortiert, dann werden ähnliche Schnipsel anhand der Konturen zueinander gepasst.

Im Chaos gerettet

Dass die historisch wertvollen Akten über die Tätigkeit der Stasi-Spitzel zumindest noch als Papierfetzen existieren, ist den chaotischen Zuständen während des Zusammenbruchs der DDR und den Bürgern zu verdanken.

Um sich und ihre Spitzel zu schützen, begannen die Stasi-Offiziere, belastendes Material zu beseitigen. Auf eine derartige Aktion war der Bespitzelungsapparat aber nicht eingerichtet. Da es zu wenige Papiervernichter gab und diese unter der Arbeitslast bald versagten, wurden die Akten händisch zerrissen und in große Säcke geworfen.

Die Papierschnipsel sollten später offenbar mit Wasser zu einem Papierbrei gemacht und damit endgültig und unwiederbringlich vernichtet werden. Dazu kam es aber nicht mehr, weil Bürgerkomitees die Stasi-Büros besetzten und die Säcke sicherstellten.

Brisante Akten

Die in den vergangenen neun Jahren händisch zusammengesetzten Akten enthüllten wichtige Hinweise auf die Tätigkeit der Stasi und ihrer Spitzel, der so genannten inoffiziellen Mitarbeiter.

Mithilfe der rekonstruierten Akten konnte zum Beispiel nachgewiesen werden, dass der Dichter Sascha Anderson jahrelang gezielt Schriftsteller und Künstler aus Berlin, die ihn für einen Freund hielten, an die Stasi verraten hat.

Auch für die Studie über den Einfluss der Stasi auf die deutsche Fernsehanstalt ARD wurden in den Säcken wichtige Akten gefunden. Zu den brisantesten Informationen zählen Hinweise auf die Ausbildung und Unterstützung westdeutscher Terrorgruppen und den Einsatz radioaktiver Stoffe und giftiger Chemikalien zur langsamen und nicht nachweisbaren Tötung von Oppositionellen.

Ob die 60 Millionen Euro teure virtuelle Rekonstruktion realisiert werden kann, muss jetzt der deutsche Bundestag entscheiden.