Ilse Aichingers Erfahrungen mit dem Medium Radio

Schattenspiel Radio

Ilse Aichingers Affinität zum Kino ist bekannt, doch die 1921 in Wien geborene Dichterin ist auch eine leidenschaftliche Radiohörerin. Mit ihr lauschen eine überlebensgroße Pappfigur von Stan Laurel und ihr vor kurzem verstorbener Lebensgefährte Richard Reichensperger.

Tief am Morgen oder spät in der Nacht gibt es nichts, das der Wachheit und dem Tiefschlaf zugleich hilft, gleichgültig, welche akute Apathie sich die Bettkante entlang bewegt.

"Feind hört mit", heißt es längst nicht mehr; und hieß es ohnehin nie, wenn es um die Television ging. Aber wenn ich das Radio einschalte, hören zumindest zwei in dem kalten Zimmer genau und aufmerksam mit: Stan Laurel mit Zylinder und Richard Reichensperger, der skeptisch, schräg und still an ihm vorbeisieht. Richard hat Stan gebracht und vors Fenster geschoben, und von nun ab muss er mit seinem Standplatz leben wie andere mit unerwünschten Geburtsorten.

Stan Laurel hat Oliver Hardy, der in Hollywood nach dem dritten Schlaganfall starb, um mehr Jahre überlebt als ihm lieb war. Sein Pech, seine Chance? Inzwischen ist er endgültig von Olly getrennt - schräg und etwas unwillig vor meinem Bett gelandet. Glücklich ist er nicht, denn er vermisst nicht nur Hardy. Dem Blick aus dem für ihn viel zu niedrigen Hochhaus kann er nicht viel abgewinnen.

Sehr früh sieht es oft so aus, als hätte sich Stan die Nacht hindurch Cortison gespritzt, aber das scheint nicht zu stören und macht auch Richards Blick nicht schräger als er ist. An beiden leuchtet ein, dass sie auf nichts zu bestehen scheinen, keine Eile und keine Profilierungssüchte haben. "Versuchen wir, etwas Besseres als das Sein zu erfinden", heißt es bei Cioran. Aber ob sie darauf aus sind?

Richard lehnte die Existenz, auch die seine, nie ab (es steckten ihm zu viel Chancen darinnen). Und selbst in den letzten unausdenkbaren Augenblicken in der Intensivpflegestation des Wiener AKH, in dem es Bettenburgen, Irrgänge, Blicke und keinen Ausblick gibt, hielt er daran fest, ohne sich daran zu klammern. Auch ohne Radio. Wen oder was er noch gern kurz gehört hätte, hat er für sich behalten - sonst behielt er kaum etwas bei sich. Ein Radio in seinem hellen Sarg wäre ihm schon recht gewesen - auch die Möglichkeit, das Programm zu wählen.

"Kein Unterschied zwischen dem Sein und dem Nichtsein, wenn man sie mit der gleichen Intensität erfasst", meint Cioran. Aber ob Sein oder Nichtsein, Halbschlaf oder Tod: ein Radio - auch nur am äußersten Rand der Existenz - sollte keiner Intensivpflegestation fehlen. Es ist ein frühes Instrument, aber im äußersten Fall besser als das oft unerträgliche Vokabular der medizinischen Fachsprache.

An Richards Sterbebett im AKH spielte ein Radio, aber es war nicht für ihn gedacht, sondern diente der Zerstreuung des Personals. Richard hatte nie die geringste Lust darauf, zerstreut zu werden. Die Frage, weshalb es in der so genannten Intensivpflegestation keinen gab, der diese Zumutung abstellte, muss offen bleiben.

Mir aber war es endlich gelungen, einen Wunsch zu präzisieren: Ich wollte gern ein Radio und bekam es auch. Während der zu langen Nächte oder selten zu kurzen Tage kann ich daran drehen, kann es nützen ohne benützt zu werden, kann ein Divertimento noch öfter hören als ich möchte, und die Stimmen der unerträglichen Ansagerinnen oder die von George W. Bush und Kardinal Schönborn so oft löschen, wie ich möchte, und versuchen den Schlaf zu finden, der nicht übersieht, wozu er gebraucht wird, und dem es egal ist, ob er den hoffnungsvollen oder den aufgegebenen Fällen hilft.

Zuletzt noch einmal Cioran: "Eternal activity without action." Das könnte genügen. Aber den beiden schrägen Gästen in dem täglich ungewohnteren Zimmer würde es nicht reichen.

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