Schnecken, Muscheln und Schwämme als Rohstofflieferanten

Poseidons Apotheke

Mehr als 60 Prozent aller Medikamente gegen Krebs und Infektionen stammen aus der Natur. Die Suche nach neuen Substanzen führt die Pharmaforschung derzeit ins Meer. Zur Zeit werden mehr als ein Dutzend neuer Wirkstoffe aus den Ozeanen am Menschen getestet.

Nicht die Fische gelten den Forschern als viel versprechende Medikamenten-Lieferanten, sondern Lebewesen wie Schnecken, Muscheln oder Schwämme.

Denn sie sind wenig bis gar nicht mobil - das heißt, sie müssen sich gegen Feinde wie Bakterien oder Viren mit der chemischen Keule wehren.

8.000 verschiedene Schwammarten

Am Institut für Physiologische Chemie an der Universität Mainz interessiert sich der Leiter des deutschen Forschungsverbunds Biotecmarin, Werner Müller, besonders für Schwämme. Mit 8.000 bekannten Arten gelten die farbenfrohen Meeresbewohner als exzellente lebende Apotheken.

Entwicklungsgeschichtlich sind die Schwämme rund 800 Millionen Jahre alt. Die Evolution hat ihnen viel Zeit gegeben, ihre Abwehrstrategien zu erproben und zu verfeinern.

Die Molekularbiologen wollen die Fantasie der Natur nutzen, chemische Waffen gegen Bakterien oder Viren zu entwickeln, unter anderem gegen Aids. Antivirale Stoffe, wie sie Schwefel-Schwämme produzieren, können auch bei der Krebstherapie helfen.

Produktionsmöglichkeiten

Das Meer bedeckt zwar rund 70 Prozent der Erde - aber seine Ressourcen sind nicht unbegrenzt. Zudem dürfen auch Wissenschafter die Ozeane nicht plündern, weil Meereslebewesen durch Verträge geschützt sind.

Deshalb folgen die Forscher drei Strategien: Einmal züchten sie die Schwämme in Kulturen im Meer, allerdings mit begrenzten Erfolgen.

Die zweite Möglichkeit: Schwamm-Zellen werden in großen Fermentern zur Produktion ihrer Wirkstoffe angeregt.

Als dritten Ansatz versuchen die Molekularbiologen das für die Produktion einer Substanz verantwortliche Gen aus den Schwämmen zu extrahieren und es Bakterien einzupflanzen. Die Bakterien produzieren den Wirkstoff dann als Leiharbeiter.

Probleme bei der Substanzgewinnung

Allein: Mit den Schwammgenen funktioniert das nicht so, wie gewünscht. Ein weiteres Hindernis: Viele Meeresorganismen, auch Schnecken oder Muscheln, leben zum Beispiel mit Bakterien in Symbiose. Und manchmal erzeugt der Mitbewohner die Abwehrstoffe.

So etwa die Bryostatine: Diese Substanzen gelten als große Hoffnung im Kampf gegen den Krebs, vor allem Leukämie. Produziert werden sie von Bakterien, die ein Moostierchen bewohnen.

Bis jetzt ist es den Wissenschaftern nicht gelungen, Bryostatine künstlich und in großen Mengen herzustellen. Da sich bakterielle Gene leichter manipulieren lassen als die aus höheren Organismen, wird die biotechnologische Produktion des Anti-Krebsmittels aber immer wahrscheinlicher.

Anti-Tumorwirkstoff der Seescheide

Einen der spektakulärsten Wirkstoffe der letzten Jahre hat die Seescheide Ecteinascidia turbinata geliefert. Sie hängt an Korallen und filtert Nährstoffe aus dem Wasser.

Forscher haben in der Seescheide aber auch einen Anti-Tumorwirkstoff gefunden, der Brust-, Eierstock und Lungenkrebs bekämpfen kann. Ein Test an rund 500 Patienten hat gezeigt, dass sich bei fast der Hälfte der Tumor zurückbildete oder nicht mehr weiter wuchs.

Gift der Kegelschnecke als Schmerzmittel

Sehr bewährt aus Poseidons Apotheke hat sich jüngst auch das Gift der Kegelschnecke: paradoxerweise als hochwirksames Schmerz-Mittel. Es blockiert die Schmerz-Leitung in den Nerven. Seine Wirkung hält länger an als die von Morphium - außerdem macht das Gift der Kegelschnecke nicht süchtig.

Erforschung des marinen Lebensraums erst am Anfang

Forscher schätzen, dass sich in den Ozeanen rund 500 Millionen chemische Verbindungen verbergen. Bekannt sind weniger als 100.000. Die Erforschung des marinen Lebensraums steht also noch am Anfang.

Derzeit ist in der Apotheke nur ein einziges Mittel erhältlich, das sich die Wissenschaftler von der Unterwasserwelt abgeschaut hat - ein Mittel gegen Herpes.