Lojze Kovacics autobiografisches Erinnerungsbuch

Die Zugereisten

So genannte "Jahrhundertbücher" provozieren ganz besondere Erwartungen ihrer potenziellen Leser. "Die Zugereisten" halten dem stand. Sie verdichten die Erfahrung ideologischer, nationaler und familiärer Bruchlinien in den Jahren 1938-1941 zum Bild einer Epoche.

Im Zentrum des Romans "Die Zugereisten" von Lojze Kovacic steht das empfindlich auf alle Reize reagierende Bewusstsein eines 10- bis 12-jährigen Buben. Es ist ein autobiografisches Erinnerungsbuch, das heißt, derjenige, der schreibt, und derjenige, der erlebt, sind ein- und dieselbe Person; sie sind es aber auch wieder nicht, weil sich zwischen Erfahrung und Niederschrift mehr als 40 Jahre an anderen gemachten Erfahrungen, an historischer und persönlicher Reflexion aufgeschichtet haben.

Ein verhängnisvoller Fehler

Der Vater von Lojze Kovacic war noch vor dem Ersten Weltkrieg aus Slowenien in die Schweiz ausgewandert, zusammen mit seiner aus dem Saarland stammenden deutschen Frau. Aus Stolz oder Ignoranz hatte er sich geweigert, die Schweizer Staatsbürgerschaft anzunehmen, was sich nun, 1938, als verhängnisvoller Fehler erweist. Es beginnt eine jener Odysseen, die zum Zeichen des 20. Jahrhunderts wurden:

Seit ein Uhr mittags fuhren wir. (...) Jetzt sah ich, wie Basel war, wenn es vom Schwindel erfasst wurde. Zuerst wie eine dicke, graugrüne Schlange, die halb am Boden, halb in der Luft rückwärts fliegt (...) in einen riesigen Saugrüssel hinten (...) ein regelrechtes Zerstückeln, ein Unwetter, ein Orkan.

In der "Heimat" ausgegrenzt

Viele Stunden später befindet sich der Bub im Land seiner Väter, in einem Land, dessen Sprache er nicht versteht, unter armen slowenischen Bauern, die den Zugereisten mit zunächst verhaltener, dann offener Aggression begegnen. Zum Ausgesetztsein unter Fremden, auch wenn sie zur Familie des Vaters gehören, kommt ein innerfamiliärer Konflikt hinzu: zwischen dem kränkelnden Vater und der dauernd jammernden Mutter.

Die vielleicht größte Stärke dieses Romans liegt in der Selbstverständlichkeit, mit der der Autor den pubertierenden 10-, 11- und 12-Jährigen in die ideologisch aufgeladene Zeit der Vorkriegsjahre und der ersten Kriegsjahre hinein stellt. Einmal ist das schlecht beherrschte Slowenische eine ständige Schmach, später, als Hitlers Truppen von einem Sieg zum nächsten eilen, ist plötzlich das Deutsche ein Trumpf.

Bandenmitglied, um dazuzugehören

Als die Verhältnisse auf dem Land untragbar werden, flieht die Familie nach Ljubljana, zunächst in ein Kellerloch, dem später nur wenig bessere Wohnungen folgen. Lojze möchte dazu gehören, er wirbt um Freundschaften. In den Bandenkriegen der Buben, die die Revierkämpfe der großen Politik simulieren, ist er einer der Tapfersten. Er muss sich auf der Straße bewähren, weil ihm die Sicherheit eines Zuhauses fehlen.

Das Dazugehören gelingt nie auf Dauer. Als vermeintlich Deutscher, der doch als Sohn eines Slowenen in der Schweiz geboren wurde, ist er den Anfeindungen der slowenischen Nationalisten ausgesetzt. Die Uniform der Hitlerjugend, in die man Lojze steckt, als dies opportun ist, will ihm nicht passen. Er spürt, dass er nirgends dazu gehört, auch wenn "Vati", der kranke und deklassierte Schneider, für Hitler ist, weil er sich von ihm eine Verbesserung seiner Lage erhofft. "Die Zugereisten" enden mit der Besetzung Ljubljanas durch die Truppen Mussolinis im Jahr 1941.

Eine Geschichte wie ein Zug

Anfänglich gerät die Lektüre des Romans immer wieder ins Stocken, sie ist anstrengend, das Bild des Zuges, der einmal mit geringer Geschwindigkeit durchs Land schleicht, dann beschleunigt dahinfährt, passt hier. Aber mit fortschreitender Lektüre, nach dem Wechsel vom Land nach Ljubljana, gewinnt die Erzählung an Geschwindigkeit, überstürzen sich die Ereignisse. "Die Zugereisten" sind Geschichte als Literatur im allerbesten Sinne.

Buch-Tipp
Lojze Kovacic, "Die Zugereisten", ins Deutsche übersetzt von Detlef Olof, Drava Verlag, ISBN: 385435388