Die feine Kunst des Wahrnehmens
Der anschauliche Denker
Sein Buch "Film als Kunst" wurde zum zeitlosen Klassiker. Mit Arbeiten zur Fotografie, zum Film und zum Rundfunk wurde Rudolf Arnheim zu einem frühen und einflussreichen Medien- und Kunsttheoretiker des 20. Jahrhunderts.
8. April 2017, 21:58
Der letzte bedeutende Vertreter der Gestaltpsychologie feiert am 15. Juli in Ann Arbor, Michigan (USA) seinen 100. Geburtstag. Bis vor wenigen Jahren schrieb Rudolf Arnheim Artikel und Aufsätze, hielt Vorträge und gab in Interviews sein Verständnis von Kunst weiter.
Die Anfänge
Rudolf Arnheim wird 1904 in Berlin geboren. Der Sohn eines Klavierfabrikanten und einer literarisch und musisch interessierten Mutter studiert Philosophie, Kunst- und Musikgeschichte - und Psychologie an jenem Berliner Universitätsinstitut, das in den 1920er Jahren eine Hochburg der Gestaltpsychologie ist.
Hier forschen Kurt Lewin, Wolfgang Koehler und Max Wertheimer, bei dem Arnheim eine Dissertation über die Ausdruckswahrnehmung von Handschriften und Gesichtern verfasst. Noch als Student beginnt Arnheim, Filmkritiken zu schreiben: zunächst für die satirische Zeitschrift "Das Stachelschwein", später für die wichtigste Stimme im Berliner kulturellen Leben: "Die Weltbühne".
Die Seele in der Silberschicht
Arnheim berichtet über das pulsierende Kunstgeschehen der Weimarer Republik - und mit Vorliebe über zwei neue Medien: Fotografie und Film. Der Fotografie ist schon sein erster Weltbühne-Artikel gewidmet: In "Die Seele in der Silberschicht". Der poetische Titel verweist auf die Rolle des Fotografen, den menschlichen Faktor: das neue Medium ist Kunst, kein rein mechanisches Abbilden der Wirklichkeit. Ein Gedanke, den Rudolf Arnheim anhand des Films weiterentwickelt.
Film als Kunst
Im 1932 erschienen Buch "Film als Kunst" beschreibt Arnheim die Gestaltungsmöglichkeiten im Film - sie erwachsen nicht aus der Wirklichkeitsnähe, sondern, im Gegenteil, aus der Beschränktheit der technischen Mittel. Der Wegfall der räumlichen Tiefe, die Begrenzung des Rahmens, das Fehlen der Farben im Schwarzweißfilm und vor allem das Fehlen des Tons im Stummfilm: sie alle zwingen zu kreativen, bildlichen Lösungen.
Das Buch wurde zu einem zeitlosen Dokument der Filmtheorie: wegen seiner systematischen Behandlung verschiedener Stilmittel, aber auch dank Arnheims pointiertem Stil. Einige Jahre lang setzt Arnheim nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten seine filmtheoretischen Arbeiten in Rom fort, wechselt dann nach England, wo er als Übersetzer für die BBC arbeitet und ein Buch über das Radio veröffentlicht.
"Der Rundfunk sucht seine Form", später unter dem Titel "Rundfunk als Hörkunst" wieder aufgelegt. In prägnanter Form schildert Arnheim die Gestaltungsmittel dieses noch jungen Mediums, die wie beim Film aus seiner Begrenzung entstehen - "Lob der Blindheit" heißt ein zentrales Kapitel.
Die feine Kunst des Wahrnehmens
1940 emigriert Arnheim in die USA. Als Universitätslehrer - unter anderem erhält er eine Professur in Harvard - kehrt er zu seinen intellektuellen Wurzeln zurück: zur Gestaltpsychologie, deren Erkenntnisse er auf die Kunst anwendet.
1954 erscheint "Kunst und Sehen" (Art and Visual Perception), eine umfassende Darstellung der Wahrnehmungsprinzipien beim Erleben von Kunst - die sich im Grunde auf andere Bereiche übertragen lassen. Arnheims Kunstverständnis ist in diesem Sinne grenzüberschreitend, nicht elitär; es stellt sich gegen die cartesianische Trennung von "Denken" und "Sehen".
In dem Buch "Anschauliches Denken" (Visual Thinking) schreibt Arnheim, "...dass, wenn einer malt, dichtet, komponiert oder tanzt, er oder sie immer mit den Sinnen denkt. Was man erdenkt, ist untrennbar von dem, was man erschaut."
Buch-Tipps
Christian Allesch und Otto Neumaier (Herausgeber), " Rudolf Arnheim oder die Kunst der Wahrnehmung. Ein interdisziplinäres Porträt", WUV Universitätsverlag, ISBN 3851148274
Rudolf Arnheim, " Die Seele in der Silberschicht. Medientheoretische Texte. Photographie - Film - Rundfunk", Herausgegeben von Helmut H. Diederichs, Suhrkamp, ISBN 3518292544
Links
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RUDOLF ARNHEIM - Internationale Studienausstellung
Arnheim Symposium