Terra incognita
Tanz der Ahnen
Ballett tanzen, das ist okay, findet der Vater. Aber als seine Tochter beginnt, die Tänze ihrer Ahnen zu lernen, ohrfeigt er sie. Wie soll sie denn je einen Mann finden, wenn sie sich mit diesem Mist abgibt. "Tanz der Ahnen" und weitere literarische Annäherungen an Haiti.
8. April 2017, 21:58
Die große Insel Hispaniola teilen sich zwei Staaten. Der größere, östliche Teil, die Dominikanische Republik, ist mittlerweile zu einem der beliebtesten karibischen Urlaubsländer geworden, der westliche Teil hingegen gehört noch immer zu den ärmsten Ländern der Welt: Haiti.
Hier leben fast so viele Menschen wie in Österreich, auf einer Fläche, die etwa so groß ist wie Oberösterreich und die Steiermark zusammen. 96 Prozent von ihnen würden, nach ihrer Religionszugehörigkeit gefragt, "katholisch" oder "protestantisch" antworten. Und doch ist die wahre Volksreligion der Haitianer Voodoo.
Alte Wurzeln
Der Glaube an die Loas und Orischas des alten Afrika war das Einzige, was die Versklavten und Verschleppten aus ihrer Heimat mitnehmen konnten - und auch dieser Glaube wurde ihnen genommen: 1685 wurde Voodoo per Gesetz verboten.
Ein Denkfehler der Herrschenden, denn Voodoo lebte im Untergrund weiter, nahm christliche Heilige in die komplizierte Hierarchie auf und wurde schließlich zu einer politischen Macht.
Am 14. August 1791 gibt der Sklave und Voodoo-Priester Boukmann während einer Voodoo-Zeremonie das Signal zum Sklavenaufstand, der letztendlich die französische Kolonialherrschaft beendete - und den wirtschaftlichen Ruin der Insel einleitete. Vielleicht auch deshalb wurde Voodoo und seine Anhänger wieder in die Illegalität gedrängt, diesmal von der einheimischen Oberschicht, die französischen Lebensstil pflegten. Im Untergrund jedoch brodelte Voodoo weiter.
Historischer Kontext
In dieser Situation spielt der Roman "Tanz der Ahnen" von Yanick Lahens, der Geschichte um die kleine Alice Bienaimé, die für ihr Leben gerne tanzt und nun, am Ende ihrer wohlbehüteten Kindheit, den klassischen Wertekonflikt erlebt. Folgt sie dem westlichen Weg der sozialen Aufsteiger, den ihr Vater für sie gewählt hat? Kann und darf sie selbst entscheiden, was mit ihrem Leben passiert? Die Gratwanderung zwischen klassischem Ballett, dem Streben nach ätherischer Schwerelosigkeit, und afrikanischem Tanz, geballter erdig-erotischer Körperlichkeit, entscheidet zunächst ihr Vater - schlagkräftig, aber nicht nachhaltig.
Voodoo an der Staatsspitze
Auch historisch gesehen taucht Voodoo mit einem Paukenschlag wieder ans Licht: 1957 wird der schwarze Landarzt Francois Duvalier, ein Voodoo-Priester, Präsident Haitis. Er regiert mit allen Schrecken, die Voodoo für seine Feinde bereit hält.
Auch diese historische Situation findet immer wieder Niederschlag in der haitianischen Literatur, etwa im Roman "Der Aufstand der Sonnenkönigin" von Gérard Etienne, der Geschichte einer karibischen Mutter Courage, die es mit allen Lebenden und allen Toten aufnimmt, um das Leben ihres Mannes zu retten. Eine Geschichte, in der der oppositionelle Autor, der mittlerweile im kanadischen Exil lebt, eigene Erfahrungen mit den Tonton Macoutes verarbeitet hat.
Aktuelle Positionen
Die Jetztzeit mit all ihren Träumen und Alpträumen, voll von Armut und dennoch voll Hoffnung porträtiert die in Haiti als Schuldirektorin arbeitenden Evelyn Trouillot in ihren als Lamuv-TB erschienenen Erzählungen "Hallo ... New York".
Übrigens ist auch die haitianische Musik voll von Voodoo, nicht nur bei den "Wurzelsuchern", sondern auch bei den "Politischen", den "Lyrischen" oder den schlicht Populären. Ob Toto Bissainthe, die ungekrönte Königin, oder Boukman Eksperyans, die Gruppe mit revolutionärem Potential, oder die im belgischen Exil lebende Marlene Dorcena, alle beginnen und beenden ihre Gigs mit Anrufungen ihrer privaten Schutzgeister.
Buch-Tipps
Yanick Lahens, "Tanz der Ahnen", Rotpunktverlag, übersetzt von Jutta Himmelreich, ISBN 3858692719
Gérard Etienne, "Der Aufstand der Sonnenkönigin", Elefanten Press, ISBN 3927883042