Kerstin Mlynkec' Debütroman
Drachentochter
Drei Jahre hat Kerstin Mlynkec an ihrem ersten Roman geschrieben. Herausgekommen ist eine teils autobiografische Geschichte über den tristen Alltag eines Mädchens in den 60er Jahren; ein Roman, der sowohl sprachlich als auch inhaltlich neue Maßstäbe setzt.
8. April 2017, 21:58
Meine Augen platzten auf wie zertretene Kastanien, weil die Emm mich mit einer Ohrfeige aus dem Mittagsschlaf geholt hatte. (...) Vergaß die Emm, mit dem Brüllen aufzuhören, oder war sie mit dem Schlagen fertig, schraubte ich die Leinölflasche auf und schnüffelte. Das machte gleichmütig, so wurde die Emm erträglicher. Sie wunderte sich erst, als sie die Schläge immer höher dosieren musste, um mich zu erreichen.
Ewige Rebellion
Der triste Alltag eines Mädchens in den 60er Jahren in Ostdeutschland: Die Ich-Erzählerin in Kerstin Mlynkec' Debütroman "Drachentochter" muss sich früh zur Wehr setzen: gegen ihre Mutter, die "Emm", die mit 13 Jahren schwanger wurde und mit der Erziehung ihres Kindes überfordert ist, gegen ihre petzenden Halbbrüder und gegen immer neue Stiefväter.
Und auch später nimmt der Kampf der Romanheldin kein Ende, wenn sie gegen die Gesellschaft rebelliert und sich konsequent allen Disziplinierungsversuchen widersetzt. Kerstin Mlynkec, die Weltenbummlerin, die hauptsächlich als Fotografin arbeitet, hat in ihrem Roman auch ihr eigenes Erleben verarbeitet.
Die Siegfried-Saga heute
Mlynkec' Heldin ist kein Spielball des Schicksals, vielmehr stellt sie sich dem Leben und bietet allen Widrigkeiten entschlossen die Stirn. Mehrere Ausbildungsansätze bricht die Erzählerin freiwillig oder gezwungenermaßen wieder ab, ob es nun um eine Lehre als Zootechnikerin oder um das Studium des Agraringenieurwesens geht.
Nur den Pferden gehört ihre Liebe, und später der Kamera, mit der sie in der Lausitz unterwegs ist. Als Kind hat die "Drachentochter" im Blut ihres abgestürzten Drachen gebadet und nur an der Schulter eine verwundbare Stelle zurückbehalten - eine originelle Variante der Siegfried-Saga. Und wie Siegfried muss auch die Erzählerin zahlreiche Schwierigkeiten meistern, an deren Ende allerdings die Erkenntnis der eigenen Identität steht.
Mein Double ICH
Mlynkec bedient sich bei all dem einer ungewöhnlichen und kreativen Sprache. Da fremdelt der Schlüssel in der Hand oder ein wirbelloser Zugwind perlt frostige Grade über das Rückgrat. Fast lyrisch wirken die Wortschöpfungen der Autorin, ebenso wie ihre Betrachtungen, wenn die Erzählerin etwa über ihr Ich räsoniert.
Meiner selbst überdrüssig beschloss ich die Entpersönlichung meines Ichs. Sie musste einen Namen bekommen, dem ich meine Gefühle und Handlungen unterschieben konnte, um nicht mehr selbst betroffen zu sein. Ein passender Name fand sich sofort: ICH! Doch bevor ich von der ICH gedoubelt werde, ziehe ich erst mal über ICH her. Es ist eine der seltenen Gelegenheiten, meine Gehässigkeiten an mir selbst auszulassen.
Der lange Weg zur Identität
Fast nebenbei streift Mlynkec bei all dem auch noch die Frage der sorbischen Identität. Selbst eine Angehörige der slawischen Volksgruppe, deren Vertreter heute noch etwa in der Lausitz oder in Berlin zu finden sind, hat sie in ihrem Roman auch das Schicksal dieser Minderheit hinterfragt und verarbeitet. Ihre sorbisch-stämmige Heldin muss einen langen Weg gehen, bevor sie ihre eigentliche Identität gefunden hat.
Drei Jahre hat Kerstin Mlynkec an ihrem ersten Roman geschrieben und nicht immer hat ihr die Arbeit nur Freude gemacht. Tatsächlich war das Buch zunächst gar nicht zur Publikation bestimmt, vielmehr schrieb Mlynkec es für ihre Tochter. Erst nachdem Freunde das Manuskript an mehrere Verlage geschickt hatten, konnte sich auch die Autorin mit dem Gedanken an eine Veröffentlichung anfreunden.
Buch-Tipp
Kerstin Mlynkec, "Drachentochter", Rowohlt Verlag, ISBN 3871344958