Erinnern und Vergessen

Ohnehin

Zeit: 1995, Ort: Wien. Hier siedelt Doron Rabinovici seinen neuen Roman an. Hauptpersonen: ein Arzt und sein Patient. Der alte Herbert Kerber leidet an seniler Demenz. Alles vergisst er, außer seiner Zeit als SS-Mann, an die erinnert sich Kerber scheinbar.

Stefan Sandtner arbeitet als Facharzt für Neurologie an einem Wiener Krankenhaus. "Erinnern und Vergessen" ist sein medizinisches Spezialgebiet. Auch in seinem Privatleben verfolgt ihn dieses Thema, denn Stefan Sandtner hat die Trennung von seiner Arztkollegin und Lebensgefährtin Sonja nicht verwunden:

Die Kunst der Erinnerung war ihm nicht fremd, bloß die des Vergessens, und jeder Versuch, Sonja ein für allemal abzuschreiben, scheiterte.

Leiden im Verdrängungsklima

Auch das politische Klima der Zeit ist vom Thema des Vergessen-müssens geprägt. Im Buch treffen wir zu Beginn auf den völlig lethargischen Arzt Sandtner, den das allgemeine Verdrängungsklima bis zur Bewegungsunfähigkeit niederdrückt.

Einmal muss Schluss sein. Genug der Leichenberge, fort mit Krieg und Verbrechen. Der Finger streicht, bestimmt schon zwanzigmal, über den roten Knopf der Fernbedienung, streift daran vorbei, drückt eine andere Taste, und die Bilder schlagen um, flackern über den Schirm. Fernsehen ohne Nachsicht. Während Stefan von einem Sender zum nächsten zappelte, wurde ihm zunehmend kälter, denn er war vor dem Apparat eingefroren, verharrte dort, brachte nicht einmal die Energie auf, in die Küche zu gehen und ein Butterbrot zu schmieren oder Tee zu kochen.

Der Pensionist Doktor Herbert Kerber

Der Arzt Sandtner nimmt sich schließlich eine Auszeit vom Klinikdienst. Nur einen Patienten behandelt er weiter: den alten Herbert Kerber, der sich nichts länger als 15 Minuten merken kann. Seine Zeit als SS-Mann, an die erinnert sich Kerber aber scheinbar ganz genau.

Vom Pensionisten Doktor Herbert Kerber in moosgrüner Strickweste und brauner Cordhose ging nichts Gefährliches mehr aus. Sein Riechorgan war aufgequollen, eine Fleischknolle, eine rote Gurke. Seine dicken Brillengläser ließen die Pupillen größer wirken.

"Ein Mörder war man nie, man ist es"

Senile Demenz, so heißt die Krankheit des Herrn Kerber, und seine erwachsenen Kinder versuchen ebenso wütend wie vergeblich, an ihrem ehemals bedrohlichen Vater so etwas wie Vergangenheitsbewältigung zu exekutieren. Kann man jemanden überhaupt noch zur Verantwortung ziehen, der selbst gar keine Vergangenheit mehr hat, der nicht mehr der ist, der er war? Für Doron Rabinovici, dessen Familie zu einem großen Teil während des Dritten Reichs ermordet wurde, ist eines ganz klar:

"Ein Mörder war man nie. Wenn man ein Mörder geworden ist, ist man es Zeit seines Lebens. Wer einmal gemordet hat - und wir wissen ja nicht, ob wir nicht theoretisch die Möglichkeit in uns hätten zu morden - aber wer es einmal getan hat, ist es nun mal."

Brücke zwischen der Vergangenheit und dem Jetzt

Für den Arzt Sandtner stellt sich in dem Roman nicht die Frage, ob er Kerber heilen und damit der Welt ein Monster zurückgeben soll, oder ob er den alten Mann in der Gnade des Patientendaseins belassen soll. Ein Arzt muss heilen, die Rückkehr der umfassenden Erinnerung des Kranken ist also das Ziel. Im Privatleben hingegen versucht Sandtner, seine unbewältigte Vergangenheit durch neue Erlebnisse zu ersetzen, seine alte Liebe einfach gegen die neue Beziehung zu der exotisch aussehenden Immigrantin Flora auszutauschen.

Doron Rabinovici schlägt in seinem Buch eine Brücke zwischen den historischen Ereignissen und dem Jetzt, zwischen der Diaspora und heutigen Migrationsbewegungen, zwischen alten Familiengeschichten und modernem Beziehungsleben.

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Buch-Tipp
Doron Rabinovici, "Ohnehin", Suhrkamp Verlag, ISBN 3518416049