Ein abendländischer Traum

Sehnsucht Morgenland

Spätestens seit Hermann Hesses Roman "Morgenlandfahrer" ist das Morgenland zu einer Chiffre geworden. Schon in der Spätantike war Indien ein Sehnsuchtsprojekt. Junge Griechen sollen damals nach Indien gefahren sein, um der Weisheit der Brahmanen zu lauschen.

Franz Martin Wimmer über das Wunderland Indien

Seit ältesten Zeiten haben alle Völker ihre Wünsche und Gelüste dahin gerichtet, einen Zugang zu den Schätzen des geheimnisvollen Landes im Orient zu finden, die das Köstlichste sind, was es auf Erden gibt - Schätze der Natur, Perlen, Diamanten, Wohlgerüche, Rosenöle, Elefanten, Löwen u. s. w. wie Schätze der Weisheit. Dass dieses Land irgendwo im Morgenland liegt, ist unumstritten. Aber wo genau es liegt, darüber streiten noch heute die Experten aller Wissenschaftsrichtungen.

Paradiesisches Indien

Wenn man nur lange genug der aufgehenden Sonne nachgeht, dann kommt man ins Paradies, glaubten die Menschen im Mittelalter. Schon in der Antike wurden auf Handelsstraßen Weihrauch, Edelsteine und Seide aus Indien in den Mittelmeerraum gebracht. Seit dem Feldzug von Alexander dem Großen im vierten vorchristlichen Jahrhundert wusste man einiges über das Land im Orient. Aber auch über die Religion und Philosophie Indiens konnte man in einer großen Handelsstadt wie zum Beispiel im ägyptischen Alexandrien einiges erfahren. Der Kirchenvater Clemens von Alexandrien etwa - er lebte im zweiten Jahrhundert - hat von Buddha gehört und nennt ihn einen vorbildlich heiligen Mann.

Glorifizierung Indiens durch Ambrosius

Für die Kirchenväter waren die indischen Weisen vorbildhaft. Der Heilige Ambrosius - er lebte im vierten nachchristlichen Jahrhundert und war der Lehrer des Heiligen Augustinus - beschreibt eine fiktive Begegnung zwischen einem indischen Brahmanen und Alexander dem Großen:

"Wenn du die Wahrheit wissen willst, dann komm nach Indien und lebe nackt in der Wildnis, weise alle Ehrerbietungen, die man dir erweist, zurück, lege alle Auszeichnungen ab, die du trägst. Du wirst nicht durch den Schweiß und die Beraubung anderer leben, sondern reich an allem sein".

Als das Heer Alexander des Großen aus Indien einen "nackten Weisen" - einen Yogi - mit sich führte, der eines Tages vor ihren Augen den Scheiterhaufen bestieg und sich selbst verbrannte, war Indien das Land der Todesverachtung, der Abgeklärtheit, der Weisheit schlechthin. Dieses Indienbild wurde bis ins christliche Mittelalter überliefert. Indien galt damals als das Paradies, wo Milch und Honig fließen.

Die Entdeckung des Seewegs nach Indien

Der große Reisende Marco Polo brachte unglaubliche Nachrichten über die Reichtümer des Morgenlandes nach Venedig, und seine Reiseberichte bildeten in Europa über lange Zeit die Hauptquelle des Wissens über Asien.

Die Entdeckung des Seewegs nach Indien und die Kolonialisierung weiter Teile Asiens durch Kaufleute, Soldaten und Missionare gaben dem Morgenland greifbarere Konturen. Die Europäer fühlten sich als die Herren der ungeheuren Schätze, die sich ihnen boten.

Sehnsuchtsbild einer heilen Welt

Das Morgenland und seine Religionen wurden im 18. und 19. Jahrhundert, zu einer Zeit, als die Industriegesellschaft entstand, zum Sehnsuchtsbild einer heilen Welt stilisiert. Das ging so weit, dass Anfang des 20. Jahrhundert sogar eine so genannte "Germanenbibel" publiziert wurde, in die Veden, die ältesten heiligen Schriften Indiens, als das Alte Testament der Germanen bezeichnet wurden. Eine heile Welt und indische Weisheit zogen auch John Lennon und die Beatles an; in den 70er und 80er Jahren mündete diese Begeisterung in die Hippiebewegung.

Dass es in Indien eine bedeutende islamische Kultur gibt, dass es die Sikhs gibt und eine fast zweitausend Jahre alte christliche Kultur, dass es mehr als tausend Jahre alte Synagogen gibt - all das ist der westlichen Indienbegeisterung aber eher verborgen geblieben.

Das heutige Indienbild

Dass in Indien die Zeit stehen geblieben ist und man es mit ganz uralten, ursprünglichen religiösen und kulturellen Traditionen zu tun hat, gehört zum üblichen Indienbild, sagt Karl Baier, der an der Katholisch-theologischen Fakultät in Wien Philosophie unterrichtet, aber auch seit vielen Jahren Yogalehrer ist:

"Yoga gilt heute als ein wichtiger Zweig der indischen Kultur und als ein Teil der traditionellen indischen Philosophiesysteme, der so genannten 'darshanas' - doch das ist das Ergebnis westlicher Einflüsse".

Heute gibt es in Indien eigene Yoga-Universitäten. Wesentlich beteiligt an der Renaissance des Yoga in Indien war die Theosophische Gesellschaft. Diese bis heute bestehende Gruppe wurde 1875 in New York gegründet. Der Einfluss dieser Gruppe war und ist enorm, auch wenn sie heute nur noch Fachleuten bekannt ist. Die Gründerin war Frau Blavatski, eine skandalumwobene Spiritistin, die behauptete, in telepathischem Kontakt mit spirituellen Lehrern im Himalaya zu sein. Ihre Bücher sind bis heute Bestseller.

Europäische Sichtweisen

Von Europa aus gesehen liegt das Morgenland in Asien, denn Asien liegt im Osten, wo die Sonne aufgeht. Doch diese Sichtweise teilen nicht alle. Der Philosoph Franz Martin Wimmer meint, aus europäischer Sicht denkt man bei dem Wort Orient eigentlich zuerst an Persien oder die Türkei, etwa an jenen Bereich, wo sich Tausendundeinenacht abgespielt hat. Man denkt jedenfalls nicht an China oder etwa an Japan, auch nicht an Indien, vielleicht weil dieser Staat zu sehr von den Engländern beeinflusst war.

Das Morgenland als globale Einheit

Geografisch lässt sich das Morgenland als Raum eingrenzen, der sich im Süden und Südosten Europas von Marokko bis Pakistan, vom Sudan bis zur Türkei bzw. bis Turkmenistan erstreckt und der abgegrenzt wird von mehreren Meeren, von Schwarzafrika, von Indien und im Norden von den Ländern des orthodoxen Christentums. Die Gedanken über den genauen Standort des Morgenlandes verblassen jedenfalls im heutigen Zeitalter der Globalisierung. Vielleicht lag ja das Morgenland nie an einem einzelnen Ort. Denn wenn man immer dem Aufgang der Sonne folgt, erfährt man die Welt, wie sie ist: als eine globale Einheit.

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