Kein Benimmkatalog

Manieren

"Ein Gespenst geht um in der klassenlosen Gesellschaft Deutschlands: die Angst, für kleinbürgerlich oder spießig gehalten zu werden", glaubt Asfa-Wossen Asserate. Schlimmer als schlechte oder gar keine Manieren sind die falschen.

Welche Manieren sind die richtigen - in einer Gesellschaft, in der Begriffe wie Tradition, Adel oder Elite obsolet geworden und Militär oder Jesuitenorden schon lange keine Autoritäten in Erziehungsfragen mehr sind? Wer legt sie fest, und wer informiert darüber?

Ungebührliches und Unzulässiges

Für Asfa-Wossen Asserate selbst stand am Anfang der Beschäftigung eine Liste mit Ungebührlichem. Unter dem Motto "Was hässlich ist" wurden unter anderem folgende Aktivitäten inkriminiert: Fremden Leuten ins Gesicht fassen. Das Fernsehen laufen lassen, wenn Besucher den Raum betreten. Rotweingläser zu voll schenken. Medizinische Ratschläge geben. Fremde Leute beim Abendessen fragen: Glauben Sie an Gott?

Der Unzulänglichkeit und Kleinkariertheit solcher Aufzählungen bewusst, ließ Asserate eine derartige Form eines Benimmkatalogs sofort wieder fallen. Empfehlungen wie "Smoking darf jetzt auch nachmittags getragen werden" gehörten doch eher in die Mitteilungen des Tanzlehrerverbandes als in ein aktuelles Buch über Manieren.

Mode und Zeitstil

"Die Manieren sind kein System, sie sind logisch nicht erschließbar und sie entziehen sich der exakten Fixierung", sagt Asserate, davon überzeugt, dass es bei einer Beschreibung der Manieren viel eher um "das Herausbilden eines bestimmten Menschentypus" gehen müsse als um "die Aufzählung von Regeln".

"Verbindliche Regeln gibt es in Deutschland nicht mehr", weiß der Autor. Vielleicht ist das der Grund, weshalb sein Buch "ein solcher Führer durch die Manieren nicht sein kann und nicht sein will" - obwohl es doch von ihnen handelt, von Mode und Zeitstil, Sprache und Konversation, vom Verhalten bei Tisch und vom Umgang mit Feinden.

Seine Hoheit, Prinz Asfa-Wossen Asserate

Wer ist er überhaupt, der Autor dieses Manieren-Buches? Es ist Seine Hoheit, Prinz Asfa-Wossen Asserate, Sohn des einstigen Kaiserlichen Kronrats von Äthiopien und einer Prinzessin, Großneffe von Kaiser Haile Selassie. Asserate kam schon als Kind mit deutscher Kultur in Kontakt, er hatte eine österreichische Erzieherin und besuchte die deutsche Schule. Später ging er ins Ausland und studierte in Tübingen und Frankfurt Jura, Geschichte und Volkswirtschaft.

Mit dem Beginn der äthiopischen Revolution 1974 waren für ihn die Brücken in seine Heimat abgebrochen. Asserate blieb in Deutschland und ist heute Unternehmensberater und Mitglied verschiedener Komitees und Organisationen zum Schutz der Kultur und Menschenrechte in Äthiopien.

"Zu den Manieren gehört eine innere Einstellung"

Nun aber hat Asserate ein Buch nicht über Äthiopien geschrieben, sondern über Manieren. Aus der Sicht des fremden Freundes, der in Deutschland lebt, aber nicht immer deutsch denkt, hat Asserate über Manieren geschrieben, die für ihn viel über Geschichte und Mentalität eines Landes verraten - und keineswegs mit Benimmregeln identisch sind.

"Zu den Manieren gehört eine innere Einstellung, eine innere Haltung", sagt Asserate. "Manieren sind für mich nichts anderes als der ästhetische Ausdruck der Moral."

Manieren sind das Parfüm

Eine Untersuchung der Manieren habe sich nicht damit zu befassen, was schön wäre, wenn wir vollkommen wären, sondern mit den Möglichkeiten, von unserer Hinfälligkeit abzulenken.

Manieren sind das Parfüm, das vergessen läßt, daß wir stinken, und wie beim Parfüm ist es klug, sich Manieren anzueignen, die mit den persönlichen Gegebenheiten nicht in kreischendem Gegensatz stehen, sondern sie glücklich ergänzen.

Mit Ironie und ohne Arroganz

Warum tun wir uns so schwer mit den Manieren? Warum haben sie für viele einen so unangenehmen Degout, den Beigeschmack Snobismus, Drill und Elitedenken? Sicher deshalb, weil wir mit Manieren etwas Aufgesetztes und Altmodisches verbinden, was mit einer offenen, modernen, multikulturellen Gesellschaft schwer in Einklang zu bringen ist.

So würde es unser Autor natürlich nicht sehen. Auffällig ist aber doch eine gewisse Indifferenz. Auffällig ist auch, dass Asserate sich gelegentlich in Kleinlichkeiten verheddert - da wird der Ausspruch "Guten Appetit" als daneben und das Wort "Sacco" als Unwort gegeißelt - oder dass er sich in Widersprüche verstrickt: wenn Nachlässigkeit proklamiert, aber der Wunsch, es sich bequem zu machen, als "Todfeind der Manieren" bezeichnet wird.

Dennoch: "Manieren" ist ein geistreiches Buch, das Werk eines eloquenten Beobachters und scharfsinnigen Stilisten, der nicht nur sammelt und beschreibt, sondern auch kommentiert - zwar ohne Arroganz, aber doch mit einer - der Lektüre natürlich sehr zuträglichen - Ironie.

Buch-Tipp
Asfa-Wossen Asserate, Manieren, Eichborn Verlag 2004, ISBN: 3821847395