Karg und kantig

Tabula Rasa

Wer Elfriede Kerns frühere Bücher kennt, wird sich in diesen Erzählungen auf vertrautem Terrain wiederfinden. Wieder entführt die Autorin den Leser in jene düster-diffusen Grenzbezirke zwischen Traum und Wirklichkeit, in denen alle ihre Bücher angesiedelt sind.

In der ersten von insgesamt vier Geschichten, "Aufbrechen" heißt sie, geht es um eine namenlose junge Frau, die eines Tages ihre Wohnung verlässt, um sich in einem Akt von Landstreicherei auf die Suche nach..., ja wonach eigentlich, zu begeben. Sie lernt einen jungen Mann kennen, einen eigentümlichen Typen. Der junge Mann trägt eine Botentasche mit sich, in der er ein geheimnisvolles blaues Ding aufbewahrt. Genauso wird es von Kern beschrieben: als "blaues Ding". Am Ende bringt sich die Protagonistin in den Besitz dieses Gegenstands, von dem wir nie erfahren, worum es sich dabei eigentlich genau handelt.

Das Aussparen und Weglassen interpretierender Details hat Elfriede Kern zu einer eigenwilligen und durchaus irritierenden Kunstform erhoben. Auch das Motiv der Vagantengeschichte, das in diesem Text anklingt, werden Kern-Leserinnen und -Leser aus früheren Büchern der Autorin kennen. Das Glück der Heimkehr ist den Kernschen Landstreicherinnen und Vaganten in der Regel nicht vergönnt.

Der Traum von der Freiheit

Immer wieder versuchen Elfriede Kerns Protagonistinnen - oft weiß man nicht, sind es Männer, sind es Frauen - auszubrechen aus kleinbürgerlicher Enge und kryptosadistischer Kontrolle. In der Regel misslingen diese Ausbrüche, der Traum von der Freiheit endet stets in neuer Abhängigkeit.

Es ist ein karges und kantiges Erzählen, das Elfriede Kern in ihren Texten kultiviert. Ein Stil, der nicht nur auf jubelnde Zustimmung stößt. Bei Lesungen werde sie immer wieder mit verstörten Reaktionen konfrontiert, erzählt die Autorin. So nach dem Motto: Wie kann eine FRAU derartig abgründig schreiben?

Dressur zum Comeback

Vier Geschichten umfasst Kerns Erzählband; die ersten drei, keine mehr als 15, 16 Seiten lang, bilden eine Art Präludium zum eigentlichen Haupttext, der mehr als hundertseitigen Erzählung "Ruth schläft".

Als Mitglied einer abgehalfterten Zirkustruppe zieht sich Ruth, die Ich-Erzählerin, mit der Akrobatin Blanka in ein entlegenes Winterquartier auf dem Lande zurück. Nachts schaben wilde Tiere an der Hauswand, die Atmosphäre ums Haus ist durchaus unheimlich.

Was treiben die beiden Frauen in der ländlichen Einsamkeit? Ruth soll Blanka für die Frühjahrssaison trainieren. Die Artistin leidet allerdings an Narkolepsie, einer Krankheit, bei der die Patienten unwillentlich immer wieder in tiefe Schlafzustände fallen. Trainerin Ruth sieht sich gezwungen, ihre Freundin aufs Grausamste zu schikanieren, damit sie im Frühjahr ein glanzvolles Comeback in der Manege feiern kann. Die Logik von Beherrschung und Unterwerfung bestimmt den ganzen Text, mit "Ruth schläft" hat Elfriede Kern ein Lehrstück über die Dressierbarkeit des Menschen vorgelegt.

Keine verstörende Kraft

Mit ihren Romanen "Schwarze Lämmer", "Kopfstücke" sowie "Etüde für Adele und einen Hund" hat sich die 53-jährige Autorin zum Teil durchaus enthusiastische Kritiken und eine eingefleischte Fangemeinde erschrieben.

Leider erreichen die vier Erzählungen des vorliegenden Bandes nicht ganz die Qualität der Kernschen Romane. Außerdem entwickeln die Erzählungen nicht den Sog der Romane, die man nicht und nicht beiseite legen kann, ehe man sie ganz zu Ende gelesen hat. Die Erzählungen haben gewiss ihre Qualitäten, die verstörende Kraft der "Schwarzen Lämmer" oder der "Kopfstücke" erreichen sie nicht.

Buch-Tipp
Elfriede Kern: "Tabula Rasa", Vier Erzählungen, Verlag Jung und Jung 2004, ISBN 3902144610