Die Schleier der Vergangenheit

Der Gulag

Mehr als acht Jahrzehnte nach seiner Gründung zählt der Gulag noch immer zu den weißen Flecken im geschichtlichen Bewusstsein des 20. Jahrhunderts. Viele haben nur ein äußerst vages Bild davon. Dies versucht nun Anne Applebaum mit ihrem Buch zu ändern.

Die ersten Zeugenberichte über die sowjetischen Konzentrationslager stammen noch aus der Zeit des russischen Bürgerkrieges 1917-1922. Auch wurde zumindest ein Teil von Stalins Verbrechen nach dessen Tod 1953 durch die sowjetische Regierung zugegeben, die früh die Zeugenaussagen vieler Dissidenten bestätigten. Zahlreiche andere Widerstände scheinen jedoch die Aufarbeitung dieses Themas verhindert zu haben.

Bis heute gibt es kein nationales Museum, das der Geschichte der Repressalien gewidmet wäre. Es gibt keinen Ort der nationalen Trauer, kein Denkmal, das die Leiden der Opfer und ihre Familien offiziell würdigt.

Ein Denkmal für den KGB-Chef

Noch heute lässt der KGB Denkmäler für ihren Gründer, Felix Dzierzynski, bauen und erst kürzlich weihte der russische Präsident Vladimir Putin ein Denkmal für Juri Andropow, dem ehemaligen Chef des KGB und kurzfristigen Führer der Sowjetunion, ein.

An der Vernachlässigung des Themas mitbeteiligt war aber auch die Haltung zahlreicher Linksintellektueller, Parteien und Organisationen im Westen, die z.B. durch persönliche Diffamierung der Opfer versuchten, die Tragweite der Verbrechen herunterzuspielen und zu verharmlosen. So etwa bezeichnete Jean Paul Sartre jeden Antikommunisten als 'Hund', der kommunistische Schriftsteller Louis Aragon leugnete die Existent des Gulags noch Anfang der 50er Jahre und Solschenizyn wurde noch in den 80er Jahren als Verleumder gebrandmarkt.

Geschichte der Zwangslager

Mit ihrem Buch setzt Anne Applebaum dieser Tradition des Wegschauens und der Verleugnung ein Ende. Sie analysiert die Geschichte der Zwangslager sowohl in einer zeitlichen Abfolge als auch unter einem thematischen Blickwinkel.

Neben der Geschichte des Gulags bemüht sich Applebaum auch um die Darstellung des alltäglichen Lebens. Sie beschreibt die einzelnen Stationen, die ein Häftling von seiner Verhaftung bis zu seiner Freilassung oder seinem Tod zu durchlaufen hatte, ihre Überlebensstrategien, weiters die Häftlingsgruppen und das Bewachungspersonal.

Der Gulag als Wirtschaftssystem

Applebaums Buch zeigt auch eindeutig, dass die Entwicklung des Gulag unter Lenin - und nicht erst unter Stalin - seinen Anfang nahm und ständig ausgeweitet wurde. Auch war das Gulag-System nicht mit Stalins Tod zu Ende, sondern bestand in veränderter Form bis in die Ära Gorbatschow. Stalin gestaltete den Gulag in ein riesiges Wirtschaftssystem um, das die unzähligen Opfer der Kollektivierung, der Säuberungen und der zahlreichen willkürlichen Kampagnen gegen einzelne soziale oder ethnische Gruppen nun als Sklaven benutzte.

Doch auch außerhalb der Lager litt man schrecklichen Hunger und Lebensmittel waren - wenn überhaupt vorhanden - streng rationiert. Am Arbeitsplatz war man einer drakonischen Disziplin ausgesetzt und eine fünfminütige Verspätung konnte mehrere Jahre Lagerhaft aufgrund angeblicher Arbeitsverweigerung bedeuten.

Opfer des Regimes

Schließlich zeigt das Buch Applebaums, wie schwer es noch heute ist, die einzelnen Opfergruppen - die im Grunde die gesamte Gesellschaft umfassten - voneinander abzugrenzen. Die 18 Millionen Menschen, die zwischen 1929 und 1953 den Gulag passierten, waren nur eine von vielen Opfergruppen. Hinzu kommen noch zahlreiche andere: die Zwangsumgesiedelten, diejenigen, die an ihrem Arbeitsort verbannt waren, die Exekutionsopfer, deren Zahl in die Millionen geht, die Opfer der Hungersnöte und viele andere.

Die Liste ist lang und die Unterscheidung zwischen den einzelnen Kategorien schwierig, weil die meisten Bürger der Sowjetunion früher oder später, direkt oder indirekt, zu Opfern des Regimes wurden, das Terror als Regierungsform gewählt hatte. So scheint der Titel, den einst ein Autor für seine Geschichte der Sowjetunion wählte, 'Ein Staat gegen sein Volk', durchaus zutreffend.

Buch-Tipp
Anne Applebaum, "Der Gulag", aus dem Englischen von Frank Wolf, Siedler Verlag Berlin 2003, ISBN 3886806421