Ein dunkles Kapitel der Geschichte Wiens

Kündigungsgrund Nicht-Arier

Während der Herrschaft der Nationalsozialisten wurden in Wien mehr als 70.000 Wohnungen "arisiert". 1938/39 wurden in Wien über 2000 Kündigungsverfahren gegen jüdische Mieter in Gemeindebauten eingeleitet. Ein dunkles Kapitel der Geschichte Wiens.

Die Kündigungsverfahren gegen jüdische Mieter in Gemeindebauten waren lange Zeit ein völlig unbekanntes Kapitel aus der NS-Zeit.

1996 veröffentlichten Herbert Exenberger, Johann Koß und Brigitte Ungar-Klein eine Pionierarbeit über die Arisierung von Gemeindebauwohnungen, die auch der Historikerkommission wertvolle Grundlagen für das Kapitel über den Entzug der Miet- und Pachtrechte geliefert hat.

Säuberung des Rathauses

Sofort nach dem "Anschluss" war das Rathaus unter NS-Verwaltung gebracht worden. Die Beamten wurden aufgefordert, einen Ariernachweis zu erbringen, konnten sie dies nicht, wurden sie, ebenso wie politisch Unliebsame, aus der Stadtverwaltung entfernt, erklärt Regierungsrat Johann Koß, ehemaliger Verwaltungsbeamter in der Wohnhäuserverwaltung.

Brigitte Ungar-Klein, Leiterin des jüdischen Instituts für Erwachsenenbildung, ergänzt: "Über Nacht gab es niemanden mehr in den Ämtern, der gegen die Nazis eingestellt war". Am 14. Juni 1938 erteilte Vizebürgermeister Kozich den Auftrag, sämtliche jüdische Mieter in städtischen Wohnhäusern zum nächstmöglichen Termin zu kündigen. Startschuss zur amtlichen Arisierungsaktion.

ungültiger Mieterschutz

Die große Wohnungsnot in Wien war ein Grund für die wildgewordene Gier, mit der sich die WienerInnen auf jüdische Wohnungen stürzten. Gemeindebauwohnungen waren überaus beliebt, boten sie doch einen überaus fortschrittlichen Wohnungsstandard.

Der gesetzliche Mieterschutz war bei der NS-Machtübernahme für jüdische MieterInnen noch gültig, galt aber nur für Wohnungen, die vor 1917 erbaut worden waren. Diese Gesetzeslücke wurde den jüdischen MieterInnen im Gemeindebau zum Verhängnis: die Gemeindebauwohnungen waren erst ab 1924 gebaut worden.

MieterInnen im Gemeindebau konnten ohne Angabe von Gründen gekündigt werden. Was auch so geschah. Projektleiter Herbert Exenberger, ehemaliger Bibliothekar am DOEW: "Es gibt Entwürfe zu den Kündigungsschreiben, in denen die rassischen Gründe klar ersichtlich sind." Für die Judenerfassung dürften die Listen für die Volksabstimmung im April 1938 gedient haben, von der Juden ausgeschlossen waren.

Sozialstruktur

Entgegen dem gängigen Vorurteil "Jude = reich" waren viele jüdische MieterInnen im Gemeindebau kleine Leute - Strassen- oder Eisenbahner, Kleinstgewerbetreibende, Handwerker, Greissler. Für letztere, aber auch die Ärzte, bedeutete der Verlust der Wohnung gleichzeitig den Verlust der Arbeit. Sie wurden jeder Existenzgrundlage beraubt.

Die meisten der Gekündigten wurden in Sammelwohnungen oder Barackenlagern zusammengepfercht. Die Konzentration der Menschen in Massenquartieren erleichterte der NS-Maschinerie die Deportationen in die Vernichtungslager.

Erinnerungszeichen

Die AutorInnen haben versucht, die Schicksale der vertriebenen jüdischen MieterInnen nachzuzeichnen. Die meisten wurden ermordet. Kaum jemand ist nach 1945 zurückgekommen. Kaum jemand hat etwas zurückbekommen. In der zweiten Republik wurde nie ein Rückstellungsgesetz für entzogene Miet- und Pachtrechte verabschiedet.

Seit kurzem gibt es bei Gemeindebauten wie dem Georg-Schmidl-Hof oder dem Karl-Marx-Hof Gedenktafeln mit den Namen ermordeter MieterInnen. Als Erinnerungszeichen, die die Forschungsarbeit von Exenberger, Koß und Ungar-Klein ermöglicht hat.

Buch-Tipp
Herbert Exenberger, Johann Koß, Brigitte Ungar-Klein, "Kündigungsgrund Nicht-Arier. Die Vertreibung jüdischer Mieter aus den Wiener Gemeindebauten in den Jahren 1938/39", Picus Verlag