Die Entstehung einer gemeinsamen Identität
Die Seele Europas
51 Prozent der Österreicher sagen, sie würden sich auch in Zukunft nur als Österreicher und nicht als Europäer sehen. Und doch nimmt gerade unter der urbanen, mobilen Bevölkerung das europäische Denken zu. EU-Bürger auf der Suche nach Identität.
8. April 2017, 21:58
Wenn die EU von 15 auf 25 Staaten anwächst, wird das Bild Europas noch einmal gewandelt. Welche Identität werden die EU-Bürger wählen: sehen Sie sich in Zukunft als Bürger ihrer Stadt, ihrer Region, ihres Landes oder doch als Bürger Europas?
"Wir definieren uns leichter über das, was wir nicht sind"
"Identitäten werden nicht nur von Individuen gewählt, sondern auch von Gesellschaften konstruiert", meint etwa Rainer Bauböck von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und Autor des Buches "Europas Identitäten". Die Abgrenzung zu anderen Identitäten ist da recht hilfreich: Europa im Gegensatz zum Islam oder zu den Vereinigten Staaten.
Europa in den Schulbüchern
Am heftigsten wird derzeit in den Schulbüchern an einer neuen Identität gebastelt. Yasemine Soysal, Soziologin an der Universität Essex, hat die Veränderungen in Schulbüchern und Lehrplänen seit 1945 untersucht. Sie hat Deutschland, Großbritannien, Frankreich sowie Griechenland und die Türkei in ihre Langzeitstudie miteinbezogen. In ihrer Forschung vergleicht sie diese Länder und konzentriert sich auf die Europäisierung der Identität.
Europa ist zukunftsorientiert
Europa unterscheidet sich ganz wesentlich in der Identitätskonstruktion von der Art, wie nationale Identität hergestellt wird. "Die europäische Identität kann sich nicht mit einer tief verwurzelten Geschichte, alten Kulturen oder alten Territorien legitimieren", sagt Soysal. "Also ist die europäische Identität zukunftsorientiert." So soll sich ein wirksames "Wir"-Gefühl erzeugen lassen.
Häusliche Wikinger
In der nationalen Geschichtsschreibung sind Veränderungen zu beobachten. Das Charisma der Nationen verschwindet zusehends. Das Lieblingsbeispiel von Soysal sind die Wikinger. "Wir werden uns alle an die Bilder in unseren Schulbüchern über die bärtigen Dänen mit Schwertern und Äxten erinnern. In den Schulbüchern heute sind die Wikinger von diesen wilden Aggressoren zu geschickten Händlern geworden", resümiert die Wissenschaftlerin.
Die unterschiedlichen Identitäten existieren laut Soysal nach wie vor, werden aber verändert, umgestaltet und reinterpretiert - ganz so, wie es die Idee eines großen Europa verlangt.
Keine "Helden" mehr
In den Schulbüchern gibt es auch keine Glorifizierung mehr. Jeanne d´Arc, Bismarck oder Francis Drake werden nicht mehr als Führerfiguren gezeichnet und sie sind auch nicht mehr die Personifikation eines glorreichen historischen Moments in der französischen, deutschen oder britischen Geschichte. Sie werden als Menschen gezeigt, von denen man lernen kann, die aber auch ihre Schwächen haben.
Regionen im Mittelpunkt
Genauso wie die Nationen, werden auch die Regionen revidiert. Mit der Integration rücken die Regionen ins Herzen Europas. "In deutschen Geschichtsbüchern wird und werden Europa und die lokalen Regionen immer mehr zum Generator für Geschichte und Identität - während die Nation als solche verschwindet.
Unauffällige Europäisierung
Europa wird zunehmend als Realität angenommen und nicht mehr kritisch hinterfragt. Als Beispiel nennt sie die PISA-Studie über das Bildungsniveau in Europa. Die Staaten zeigten sich bestürzt, wenn sie bei diesem Vergleich nicht gut abschneiden. Da die Erziehungssysteme historisch gewachsen und sehr unterschiedlich sind, wird auf anderer Ebene eine Vereinheitlichung angepeilt, kritisiert die Wissenschafterin. Durch diese Prozesse erfolgt eine unauffällige Europäisierung der Bildung.
Buch-Tipp
Monika Mokre, Gilbert Weiss, Rainer Bauböck, "Europas Identitäten", Campus Verlag, ISBN 3593372312
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