Geschichte und Zukunft einer europäischen Kulturlandschaft

Die Alpen

Die Alpen, stellt Werner Bätzing einleitend fest, sind nicht einfach eine ausgedehnte Gebirgskette ungefähr in der Mitte Europas. Sie sind jene Landschaft, die am meisten romantisiert, mystifiziert und positiv wie negativ überhöht wird.

Den römischen Autoren galten die Alpen als "montes horribiles", eine Furcht erregende Region, in der nur Barbaren hausten. Dieses Schreckbild dominierte bis vor wenig mehr als 200 Jahren. Langsam erst wurden die Alpen umgewertet, bis sie im Zug der Aufklärung von einer "schrecklichen" zu einer "schrecklich schönen" Gegend aufstiegen. Die Alpen werden nun nicht mehr möglichst gemieden, sie werden aufgesucht, sie werden in Romanen gefeiert und nicht zuletzt auf eine ganz bestimmte Weise gemalt.

Basis der neuen Landschaftsästhetik ist der kompositorische Gegensatz zwischen einem Geborgenheit und Sicherheit vermittelnden Vordergrund, oft in Form einer idyllischen, pastoralen Landschaft mit Bauernhaus, Trachtenpersonen und Tieren, und einem lebensfeindlichen, bedrohlichen Hintergrund, oft in Form einer steilen Felswand oder eines großen Gletschers. Erst dieser Gegensatz macht den ästhetischen Reiz der Alpen aus.

Idylle vs. Horrorszenarien

Warum ein Ausflug in die Kunstgeschichte gleich zu Beginn eines Buches über einen Naturraum? Der Geograf Werner Bätzing ist überzeugt, dass unsere Fantasien von Idylle einerseits und Horrorregion andererseits sehr wesentlich den Umgang mit den Alpen beeinflussen: in Diskussionen etwa über Umwelt- und Naturschutz schlagen die Zerrbilder durch - konservative Politiker und Wirtschaftstreibende zeichnen das Bild der unbelasteten Idylle, Umweltschützer malen Katastrophenszenarios. Dass die eigenen Interessen die Wahrnehmung bestimmen, das zeigen seit Mitte der 80er Jahre auch die neuen "Aktivsportarten"; beim Mountain-Biking, River-Rafting oder Paragliding werden die Berge zur reinen Kulisse, die lediglich zu den gesuchten starken, direkten Körpersensationen verhilft.

Da alle Aktivsportarten hoch spezialisiert auf ganz bestimmte Erlebnisse ausgerichtet sind, brauchen sie jeweils unterschiedliche Naturbedingungen und Infrastrukturen. Das gemeinsame Alpenbild zersplittert in zahllose, nebeneinander stehende Alpenbilder.

Naturraum, Wirtschaftsraum, Kulturraum

Die Alpen sind ein Naturraum, sie sind zugleich ein Wirtschaftsraum, sie sind ein Kulturraum. Werner Bätzing insistiert darauf, dass das eine nicht ohne das andere zu denken ist. Kulturelle Unterschiede wirkten auf die Natur zurück.

An zahlreichen Beispielen und mit Abbildungen zeigt Bätzing, wie die traditionelle bäuerliche Nutzung die Landschaft prägt, sie kleinräumiger und auch ökologisch vielfältiger macht. Oder gemacht hat, denn die Landwirtschaft geht vor allem in hohen Lagen seit Jahren zurück.

Damit zerfallen die Alpen in die Einzugsbereiche von einzelnen Großstädten wie Wien, München, Zürich, Marseille, Mailand oder Ljubljana, und zwischen diesen sich verstädternden Gebieten entstehen "Niemandsregionen", die sich entweder vollständig entsiedeln oder in denen im besten Fall einige räumlich isolierte Tourismuszentren eine ortlose Scheinwelt à la "Heidiland" pflegen.

Tourismus ohne Zukunft?

Der gefährdete Alpenraum wird seine Eigenständigkeit nicht als großes Museum behaupten können, argumentiert Bätzing, auch nicht als großer Nationalpark, sondern nur als ein lebendiger Lebens- und Wirtschaftsraum. Bätzing warnt davor, sich dabei auf den Tourismus zu verlassen, wie er heute stattfindet - da profitieren nur wenige Tourismuszentren von den Besuchern: fast die Hälfte der Gästebetten steht in ganzen 300 Gemeinden, das sind fünf Prozent der Alpengemeinden.

Der Stagnation versucht man mancherorts wieder durch Flucht nach vorne zu entkommen, in dem man weitere Großprojekte baut und dafür auch bedenkliche ökologische Folgen in Kauf nimmt, oder die Verkleinerung von Naturschutzgebieten wie vor ein paar Jahren im Skigroßraum Zillertal. Der gute Verdienst im Massentourismus wird teuer erkauft.

Innovative Ideen gefragt

Die Chance für ein Überleben der Alpenregion, so Bätzing, liegt in einer sensiblen, aber durchaus innovativen Nutzung der einzigartigen Ressourcen des Alpenraums. Dazu gehört ganz wesentlich der Wasserreichtum der Alpen, der in Zeiten des Klimawandels für ganz Europa noch sehr wichtig werden könnte. Dazu gehört auch ein dezentraler, respektvoller Tourismus, dazu gehört vor allem aber das Fortbestehen von Arbeitsplätzen in der Landwirtschaft, in Dienstleistungen und Industrie. Doch die Alpenregionen werden sich nur gemeinsam schützen und durchsetzen können:

Die Alpen müssen einheitlich und gemeinsam in Europa auftreten, um unmissverständlich deutlich zu machen, dass europaweit einheitliche Nutzungsrichtlinien nicht für die Alpen geeignet sind - am auffälligsten derzeit beim Transitverkehr - und deshalb modifiziert werden müssen. Mit fast 200.000 km2 Fläche und 14 Millionen Einwohnern sind die Alpen groß genug, um diese Position unüberhörbar in Europa zu vertreten.

Im Glücksfall, so die Hoffnung des Alpenforschers Werner Bätzing, könnten die derzeit stark bedrohten Alpen sogar zu Vorreitern werden - zu Vorreitern einer nachhaltigen Entwicklung in ganz Europa.

Buch-Tipp
Werner Bätzing, "Die Alpen. Geschichte und Zukunft einer europäischen Kulturlandschaft", 2. aktualisierte und völlig neu konzipierte Auflage, Verlag C. H. Beck 2003, ISBN 3406501850