Der Schritt in eine neue Dimension christlicher Frömmigkeit

Lob der Unvollkommenheit

Vor mehr als tausend Jahren waren für die Menschen noch die Engel ein Bild der Vollkommenheit. Heute redet man weniger von Vollkommenheit. Aus der Schwerelosigkeit der Engel ist Anstrengung geworden. Aber führt sie zum Ziel?

Der Schweizer Theologe Pierre Stutz über Vollkommenheit

Waren vor mehr als tausend Jahren für die Menschen noch die Engel mit ihrer schwerelosen, den Normen und Zwängen der irdischen Welt entrückten Existenz ein Bild der Vollkommenheit, so spricht man heute von anderen Idealen. Perfektion ist die Forderung der Stunde. Aus der Schwerelosigkeit der Engel ist Anstrengung geworden.

Perfekt in allen Lebenslagen

Wenn ein Mann eine makellose Figur machen will, muss er sich dafür im Fitness-Studio abstrampeln, denn Waschbrettbauch und Muskelskulptur muss man sich hart erarbeiten. Auch für das perfekte, makellose Make-Up müssen Frauen viel Zeit, Mühe und Geld investieren. Denn derangiert - womöglich nach einem Tränenausbruch - soll man ja besser nicht aussehen.

Nur wer perfekt gestylt, perfekt ausgebildet, perfekt arbeitend und überhaupt perfekt in allen Lebenslagen ist, hat heutzutage Chancen. Die Fehlerhaften, Unperfekten fallen durch den Rost. Das ist nicht nur beim Gemüse oder bei irgendwelchen Waren so... Oder? Gibt es da Alternativen?

Die Begrenztheit der Vollkommenheit

Der Schweizer Theologe und Priester Pierre Stutz sieht in diesem Streben ein Machbarkeits- und Kontrolldenken. Auch er hat sich als junger Theologe mit großem Elan und hohen Idealen in die Seelsorge geworfen. Aber dann kam der große Zusammenbruch:

"Ich hatte mich zu sehr verausgabt, grenzenlos gelebt, weil ich mein Begrenztsein nicht annehmen wollte. Eine wochenlange Schlaflosigkeit, gegen die ich ohne Erfolg ankämpfte, verstärkte meinen Lebensdruck von Tag zu Tag.“

Schließlich entschloss er sich, vollkommen neu anzufangen und ein altes Kloster in Neuchatel in der Schweiz als offenes Kloster wieder zu beleben - ein Unternehmen, das von Erfolg gekrönt war. In dieser schwierigen Zeit hat er die Wichtigkeit und Würde des Scheiterns und der Begrenztheit erfahren. Denn: "Sich die eigene Unvollkommenheit einzugestehen, ist schwierig, aber ein Schritt in eine neue Dimension christlicher Frömmigkeit, die am Boden bleibt und dennoch zum Himmel strebt."

Der Vergleich mit dem Messer

Auch in den protestantischen Kirchen ist man traditionell skeptisch, wenn es um Vollkommenheit geht. Man hält sich an den Satz Luthers, dass der Mensch zugleich Sünder und Gerechter ist. Das Streben nach Vollkommenheit und das Ideal der Vollkommenheit spielt vor allem in der römisch-katholischen Kirche eine sehr wichtige Rolle. Stutz dazu:

"Vollkommenheit gehört zu den Tugenden eines Christenlebens, das steht schon im Neuen Testament, aber diese große Forderung ist wie ein scharfes Messer, es schneidet, aber man kann sich damit auch verletzen. Wer zum Perfektionismus neigt, der hat es mit sich nicht immer leicht. Denn die Ansprüche an sich selbst machen das Leben nur schwieriger. Irgendwie hat es sich aber im Christentum eingebürgert, über die unangenehmen, unschönen Gefühle hinwegzublinzeln und so zu tun, als ob alles in Ordnung sei. Dabei stimmt das natürlich nicht, denn es gibt Schmerz und Tod und vielerlei moralische Ungereimtheiten im menschlichen Leben.“

Erkenne dich selbst!

In seinem Buch "Verwundet bin ich und aufgehoben" hat Pierre Stutz Texte von Mystikerinnen und Mystikern gesammelt und kommentiert. Diese Texte sind oft von einer großen Direktheit. "Ein spiritueller Weg beginnt mit Selbsterkenntnis", schreibt beispielsweise Bernhard von Clairvaux, ein Zisterziensermönch aus dem 12. Jahrhundert:

"Fang also an, über dich selbst nachzudenken, und nicht nur dies: Lass dein Nachdenken auch bei dir selbst zum Abschluss kommen. Wohin deine Gedanken auch schweifen mögen, rufe sie zu dir selbst zurück, und du erntest Früchte des Heils."

Stutz interpretiert das folgendermaßen:
"Das heißt, man soll nicht nur nach außen schauen und hören, sondern auch nach innen. Ins Innere, in die Welt der Gefühle, die voll von Widersprüchen und Konflikten ist. Da gibt es Gefühle der Liebe, aber auch Gefühle des Hasses und der Gier. Und diese Gefühle treten auf - sie sind einfach da, und manchmal bekommt man sie auch nicht weg.“

Ideale gut - Aufmerksamkeit aber Heilmittel

"Menschen brauchen Ideale, doch Ideale können etwas Zerstörerisches an sich haben, wenn man sie mit der Wirklichkeit verwechselt", hat der Psychotherapeut Wolfgang Schmidbauer einmal geschrieben. Pierre Stutz schlägt in die gleiche Kerbe und schreibt in seinem Buch über eine Spiritualität der Unvollkommenheit:

"Ein Plädoyer für die Unvollkommenheit bedeutet nicht, von dem Ideal der Vollkommenheit Abschied zu nehmen. Es bedeutet nur, diesem Ideal den richtigen Platz im Leben zu geben. Worum es geht, ist doch, genau hinzuschauen und sich selbst gegenüber ehrlich zu sein, auch darum, die Verhältnisse bei ihrem wahren Namen zu nennen. Statt gute Vorsätze zu fassen, die man dann nicht hält oder sich ständig mit einem Ideal zu vergleichen und dabei unentwegt den Kürzeren zu ziehen, könnte man versuchen, einfach aufmerksam zu sein. Aufmerksamkeit ist ein Heilmittel, nicht nur für das eigene Herz, sondern auch für den Nächsten. Aufmerksamkeit ist der Stoff, aus dem die Nächstenliebe gemacht ist."

Menschen sind nicht vollkommen

Spiritualität ist nicht eine Sache von ein paar Tagen oder ein paar Monaten, sondern ein lebenslanger Lern- und Reifungsprozess. Und jeder Schritt auf dem Weg ist vorläufig, aber notwendig. Ganz entscheidend ist es dabei, sich selbst anzunehmen, auch wenn alles dagegen spricht:

"Menschen sind nicht vollkommen, und sie machen Fehler. Manche sind sogar sehr gravierend - etwa wenn der heilige Bernhard von Clairvaux zu den Kreuzzügen aufgerufen hat, dann ist das aus heutiger Sicht abzulehnen. Trotzdem, seine Sehnsucht nach Gott war echt und hat viele Menschen inspiriert.“

In solchen Gedanken kann Pierre Stutz Trost für seinen eigenen Weg finden.

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