Alexander Kluge im Gespräch mit Gerhard Moser

Romane, die die Wirklichkeit diktiert

In seinem Buch "Die Lücke, die der Teufel läßt" hat der diesjährige Büchner-Preisträger Alexander Kluge ein Kompendium neuer Geschichten vorgelegt, in denen die Abstraktivität von Gefühlen sichtbar wird. Im Gespräch erläutert er seinen Ansatzpunkt dazu.

Herr Kluge, in Ihrem neuen Buch "Die Lücke, die der Teufel läßt" haben Sie 500 Geschichten auf 1.000 Seiten zusammengetragen. Der Bogen reicht vom Reaktor-Unglück in Tschernobyl bis zum 11. September in New York. Darin befinden sich Verweise auf Adorno bis Benjamin neben Geschichten von Odysseus bis Callas. Was war für Sie der Ausgangspunkt?
Der Ausgangspunkt ist, dass man in den letzten drei Jahren mit dem Anfang des 21. Jahrhunderts konfrontiert ist - und zwar ganz anders, als ich mir das gedacht habe. 1989 dachte ich: Jetzt kommt eine gute Zeit für die Kinder. Abrüstung, eine Supermacht weniger - das kann eigentlich nur günstiger werden. Nichts davon ist eingetreten.

Sondern ...?
Neue Menetekel sind am Horizont. Der 11. September oder der asymmetrische Krieg sind ja eingetreten - das sind Herausforderungen. Und das sprengt den Erzählraum, d.h. alle diese Geschichten wurden in den letzten zwei Jahren geschrieben. Und ich denke, alles, was man beschreibt- ob es sich um Anna Karenina oder einen Absatz von Proust handelt - wird sich auf eine minutiöse Weise verändern, weil sich der Zeitraum wandelt. Meinem Eindruck nach beginnen nun die wirklichen Verhältnisse die Romane zu erzählen. Und wir als Erzähler kommen gar nicht mehr mit.

Das heißt, die Wirklichkeit ästhetisiert sich und wird zu einem Roman?
Die Wirklichkeit schreibt Romane - und zwar zum Teil schlechte. Der asymmetrische Krieg ist etwas, was bereits vor dem Dreißigjährigen Krieg existierte - es sind also Kriege, auf der Suche nach einem Feind, der zum jeweiligen Krieg passt. Das ist das Schrecklichste für Friedensschlüsse - denn dann kann man nur Siege gewinnen und kann keinen Frieden machen. Und das gehört erzählt. Man kann es aber nicht nur unter den äußeren Machtverhältnissen erzählen, sondern muss es auch in den intimen, in den Liebesgeschichten tun. Denn man muss die Unruhe unserer Zeit wieder erkennen.

Dies ist ja nicht ihr erster Erzählband, es gab auch "Die Chronik der Gefühle". Sie haben auch Romane geschrieben und wurden kürzlich mit dem Büchner-Preis ausgezeichnet. Trotzdem verbindet man mit Ihrem Namen eher den Philosophen, den Filmemacher, aber nicht den Schriftsteller. Wie sehen Sie das?
Es ist eindeutig die Priorität Buch. Ich habe ja 1962 mit Büchern begonnen und ich werde mein Leben wohl mit Büchern beenden. Der Kernpunkt ist: Bücher haben eine gewisse Vertrauenswürdigkeit. Das, was ein Buch ausmacht, ist die Beziehung zwischen den Autoren über die Zeiten hin, nicht bloß das bedruckte Papier. Insofern sind Bücher geduldig und beständig, das Erzählte bleibt stehen. Natürlich interessiere ich mich auch für Film. Ich verhalte mich dort als Autor auch nicht anders. Obwohl das Professionelle in diesem Medium völlig anders funktioniert als das literarische Erzählen. Philosoph bin ich wohl nicht, ich bin der Erzähler im Rahmen der kritischen Theorie. Ber ich sehe neben mir Philosophen: Adorno, Horkheimer und Habermas. Ich würde mich aber nicht wie diese Philosophen ausdrücken, sondern wie ein Erzähler.

Ein philosophierender Erzähler …
Das würde ich gar nicht sagen. Denn eine Erzählung räsoniert nicht, sondern Echo lotet, sie probiert und testet.

Zurück zu Ihrem jüngsten Buch und zur Volkstheater-Matinee "Globalisierung und Gewalt - Perspektiven nach dem 11. September". Dieser Tag ist für Sie ein ebenso markanter Einschnitt in der Geschichte wie das Jahr 1989 mit dem Zusammenbruch des sogenannten Realen Sozialismus. Was hat sich für Sie, vor allem für das von Ihnen vehement betriebene Projekt der Aufklärung, geändert?
Das Projekt der Aufklärung ist etwas, von dem ich glaube, dass Menschen sich davon nicht werden aussperren lassen. Das wird durch kein Menetekel, also auch nicht durch einen 11. September, aufgehalten werden. Aber dieses Datum macht darauf aufmerksam, wie viel wir noch gar nicht aufgearbeitet haben. Wie viele Zuflüsse aus den Gemütskräften noch notwendig sind, um einen Prozess der Emanzipation, der den Planeten umfassen muss, in Gang zu halten. Hier reicht die Tradition des 18. Jahrhunderts nicht aus - da ist sehr viel bloße Rhetorik, sehr viel Planwirtschaft enthalten. Es sind nicht nur praktische Lebensumstände, sondern auch eine ganze Mentalitätsstruktur, und zwar jene des Fortschritts, die wir nochmals ins Reine schreiben müssen. Habermas drückt das so aus: Die Säkularisierung ist misslungen. Wir sind heimliche Fundamentalisten im Gegensatz zu den offenkundigen islamischen Fundamentalisten. Das muss man untersuchen, wenn man die Dissoziation in der Welt mindern will. Und das kann man durch Erzählung sehr wohl.

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Buch-Tipp
Alexander Kluge, "Die Lücke, die der Teufel läßt. Im Umfeld des neuen Jahrhunderts", Suhrkamp, ISBN 3518414895

Link
Alexander Kluge - Trostgeschichten für Gefesselte