Colum McCann über eine Ikone des 20. Jahrhunderts

Der Tänzer

Rudolf Nurejew war einer der widersprüchlichsten Künstler des 20. Jahrhunderts. Ein Tänzer, der für viele die Kunstform Tanz in höchster Vollendung verkörperte und der zu einer Symbolfigur für die Unterdrückung des Menschen im Kommunismus wurde.

Rudolf Nurejew war nicht nur einer der widersprüchlichsten Künstler des 20. Jahrhunderts, er war auch eine von verschiedenen Seiten erotisch aufgeladene Ikone, wie auch ein Star, der mit seinem Geld und Ruhm exzessiv verfuhr und vor zehn Jahren, im Jahr 1993, an Aids zu Grunde ging.

Colum McCann betrachtet Nurejew durch die Augen seiner Wegbegleiter und Zeitgenossen. Ihn interessiert, was andere an Nurejew interessierte - oder interessiert haben könnte. Freunde, Angehörige, Liebhaber, tatsächliche wie erfundene. Von einer Biografie zu sprechen, wäre falsch. McCann schreibt nicht über Nurejew, sondern um diese historische Person herum, nutzt sie als Anstoß für dichterische Spekulation.

"Blondchen!" "Mädchen!"

McCanns Nurejew kommt ebenso wie der historische 1938 auf die Welt und wächst als ein verträumtes, zartes Kind in einer rauen, rigiden Umwelt auf, in der Stadt Ufa am Ural.

Der Weg zum Klassenzimmer ist ein Spießrutenlauf. "Blondchen". "Frosch". "Mädchen". Er ist kleiner als die meisten und wird oft verprügelt. (...) Rascheln, als die Jungen und Mädchen sich setzen, das Quietschen der Kreide auf der Tafel. Mathematik, er wird aufgerufen, fünf mal vierzehn, du, ja, du, du Schlafmütze!

Die verbotene Welt des Tanzens

Der junge Rudik entdeckt das Tanzen. Eine ehemalige Ballerina aus Leningrad gibt ihm ersten Tanzunterricht. Sie und ihr Mann eröffnen dem Jungen aus ärmlichen Verhältnissen eine ferne, eine vergangene, eine verbotene Welt.

Ein Teil der Schallplatten in unserer Sammlung war verboten. Wir versteckten sie in einem Bücherregal, das auf der Rückseite einen Hohlraum hatte. (...) Wenn das Grammophon seine Klickgeräusche von sich gab und dann Violinen erklangen, war das für ihn wie Medizin. Er ging mit geschlossenen Augen durch das Zimmer.

Ungezähmte Augen

Die Tochter der Tanzlehrerin übernimmt die Erzählung. Bei ihr landet der jugendliche Nurejew Ende der 50er Jahre in Leningrad.

Er erschien mir so jung und vital und naiv. Je eingehender ich ihn betrachtete, desto mehr fielen mir seine außergewöhnlichen Augen auf: Sie waren riesig, ungezähmt, als wären sie eigenständige Wesen, die nur zufällig in seinem Kopf saßen.

Eine Naturgewalt setzt sich durch

Wie eine Naturgewalt setzt sich dieser junge Wilde durch, erzwingt seine Aufnahme an die staatliche Ballettschule. Der Vater mit seinen Prügeln konnte ihn nicht aufhalten, der strenge Schulbetrieb, die Lehrer, die Konkurrenten werden es auch nicht können.

Er ist allein zu Hause, steht vor dem Spiegel, lächelt, schneidet Grimassen, übt verschiedene Mienen. Er zieht die Strumpfhose aus, legt das Suspensorium ab, steht still und schließt die Augen.

Berühmter als John Lennon

Später, im Westen, auf dem Gipfelpunkt seines Erfolgs, wird Nurejew sich mit John Lennon vergleichen. Der hatte einmal gemeint, die Beatles seien bekannter als Jesus - Nurejew erklärte sich für berühmter als John Lennon. Es ist ein Verdienst McCanns, dass er Nurejew nicht verklärt, weder seine Geltungssucht noch seine Skrupellosigkeit im Kampf um die Vorherrschaft auf der Tanzbühne.

Scheitern am Berühmtsein

"Der Tänzer" ist auch ein Buch über das Berühmtsein und das Scheitern daran - das Scheitern letztlich an dem eigenen, übergroßen, unstillbaren Hunger. Das sagt McCann zwar nicht, aber es wird sehr klar aus den fiktiven Erinnerungen derer, die Nurejew nahe standen in seinen Pariser und New Yorker Jahren.

Das Aufteilen der Erzählung auf viele Stimmen und Perspektiven macht die Lektüre spannend und abwechslungsreich, aber oft will aus den Fäden kein Erzählstrang werden.

Sich verlieren

Die dichte Atmosphäre und die überzeugenden Figuren des gründlich recherchierten ersten Teils, der in der Sowjetunion spielt, fehlen im zweiten Teil, und die Hauptperson selbst, die entschlüpft sozusagen unerkannt. Ein Risiko, das McCann bewusst einging.

Mit knapp 55 Jahren starb Rudolf Nurejew an Aids. McCanns Buch endet zwei Jahre davor, als ob er uns und Nurejew selbst die Beschämung und die Qual der letzten Jahre ersparen wollte.

Buch-Tipp
Colum McCann, "Der Tänzer", Deutsch von Dirk van Gunsteren, Rowohlt 2003, ISBN: 3498044761