Aus den angewandten Erinnerungen des Vigoleis
Die Insel des zweiten Gesichts
Albert Vigoleis Thelen wurde 1953 mit seinem ersten Roman "Die Insel des zweiten Gesichts" schlagartig berühmt, um gleich darauf als vergessener Autor in die Fußnoten der jüngeren Literaturgeschichte abzusinken. Nun ist der Roman neu aufgelegt worden.
8. April 2017, 21:58
Es ist mühsam, "Die Insel des zweiten Gesichts" von Albert Vigoleis Thelen zu lesen. Es ist Arbeit, die manchmal Vergnügen bereitet, manchmal Kopfzerbrechen, manchmal ermüdet. Wer Prousts "Recherche" oder Uwe Johnsons "Jahrestage" gelesen hat weiß, wovon die Rede ist. Von einem Lesen, das sich nicht nebenbei erledigen lässt, das Zeit und Konzentration verlangt. Und einen langen Atem.
Mallorca sehen und bleiben
"Die Insel des zweiten Gesichts" spielt auf Mallorca in den Jahren 1931 bis 1936. Vigoleis, ein junger und erfolgloser Schriftsteller, der sich mit Übersetzungen über Wasser hält, fährt mit Freundin Beatrice nach Palma. Deren Bruder Zwingli hatte per Brief von seinem hoffnungslosen Gesundheitszustand berichtet.
Wie sich vor Ort herausstellt, ist Zwingli bei bester Verfassung. Einzig seine Lebensgefährtin, die Prostituierte Pilar, macht ihm das Leben zur Hölle. Aber wenn man schon einmal auf der Insel ist, bleibt man gleich da. Schließlich ist es ja auch egal, wo man seinen Roman nicht zu Stande bringt.
Ein Vorkriegseuropa in der Nussschale
Mallorca ist für Vigoleis und Beatrice, die dort der Verarmung entgegenleben, das Vorkriegseuropa in der Nussschale, gewürzt mit dem bigotten spanischen Katholizismus.
Die Jahre bis zum Ausbruch des Bürgerkriegs 1936 sind geprägt durch Rastlosigkeit, Hoffnungslosigkeit und die Begegnung mit prototypischen Gestalten der Epoche: mit Flüchtlingen, zwielichtigen Schiebern, glücklosen Glückssuchern, arroganten Faschisten und naiv-gefährlichen Kraft-durch-Freude-Touristen.
Dilemma als Komödie
Mallorca, die Insel des zweiten Gesichts, ist für Albert Vigoleis Thelen die Metapher für - Zitat: Die Spaltung der ichverlorenen Gestalten. Während also die politischen Kräfte zu jener Zeit die Freiheit des Einzelnen dem Führerprinzip unterordnen wollen, wächst zugleich das Gefühl der Entmündigung, das Gefühl also, seines Lebens als Individuum beraubt worden zu sein. Auf Mallorca offenbart sich das europäische Dilemma jener Zeit als Komödie der Verirrungen.
Eine Komödie ist es in der Tat, denn Albert Vigoleis Thelen verwandelt seinen Zeitroman mittels exzentrischen Sprachgebrauchs in ein barockes Schelmenstück, vollgepackt mit Querverweisen auf die europäische Kulturgeschichte, mit abstrusen Theorien und geradezu masochistischen Selbstreflexionen. Über aller Tragik schwebt der Witz, der alle Wirklichkeiten in Frage stellt und damit den Text aus seiner Verankerung im politischen Kontext löst.
Beladen mit allen bitteren, süßen und scharfen Ingredienzien, die Europa im 20. Jahrhundert die Würze geben, schwebt dieser unförmige literarische Zeppelin dahin, als habe er kein Gewicht. Es ist nicht leicht, diesem Text zu folgen, aber wenn man sich dazu durchgerungen hat, wird man eines jener Bücher gelesen haben, die sich im Gedächtnis und vielleicht auch in den Träumen festbeißen.
Buch-Tipp
Albert Vigoleis Thelen, "Die Insel des zweiten Gesichts. Aus den angewandten Erinnerungen des Vigoleis", Claassen Verlag, ISBN 3546003403.
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Fanseite Albert Vigoleis Thelen