Arbeiten, Spielen, Essen, Lieben
Sucht ohne Drogen
Wer von Sucht spricht, denkt zunächst einmal an Alkoholismus oder Drogensucht. Heutzutage werden aber vermehrt so genannte "stoffungebundene" Süchte beobachtet: Arbeits- oder Spielsucht z. B., aber auch "neue" Süchte wie Internet oder Extremsport.
8. April 2017, 21:58
Der Fixer auf einer Bahnhofstoilette, der Arbeitskollege mit der Cognac-Flasche in der Schreibtischlade, der Schauspiel-Star, der ohne Griff zur Tablettenschachtel gar nicht mehr aus dem Bett kommt... Jeder von uns hat bestimmte Bilder im Kopf, wenn es um Drogen geht. Wer von Sucht spricht, denkt zunächst einmal meist an Alkoholismus, Drogen- oder Tablettenabhängigkeit.
In der modernen Gesellschaft werden aber immer wieder andere, so genannte "stoffungebundene" Süchte beobachtet: Arbeits-, Ess- und Spielsucht, die Sucht nach Liebe und Sex, aber auch neue Süchte wie Internet, Extremsport oder Börsenspekulation.
Der deutsche Psychologe Werner Gross stellt zum Thema "Sucht ohne Drogen" in seinem gleichnamigen Buch die entscheidenden Fragen: Was sind Süchte? Wo beginnen sie? Was kann man dagegen tun? Und: Droht unserer Gesellschaft eine allgemeine "Versüchtelung"?
Jedem sein Stoff
"Jedes Ding ist ein Gift. Es kommt nur auf die Dosis an."
Paracelsus, 15. Jahrhundert"
Immer öfter haben Psychologen in ihrer therapeutischen Praxis mit Patienten zu tun, die an ähnlichen Phänomenen leiden: Sie arbeiten bis zur totalen Erschöpfung, obwohl sie niemand dazu zwingt. Sie geben Unmengen an Geld für Glücksspiele aus, obwohl sie sich das gar nicht leisten können und damit auch riskieren, ihre Familie in den Ruin zu treiben. Sie essen gigantische Mengen, um gleich darauf alles wieder zu erbrechen. Oder sie steigern sich in die Liebe zu einem anderen Menschen hinein, bis sie glauben, ohne ihn nicht mehr leben zu können.
Zum Gegenstand ihres Begehrens haben sie alle eine ähnliche Beziehung wie der Alkoholiker zu seinem "Stoff". Sie zeigen Verhaltensweisen und berichten von Erfahrungen, die eins zu eins von Drogensüchtigen bekannt sind. Und sie benützen sehr häufig ihr suchthaftes Verhalten, um vor Konflikten zu fliehen oder sich einfach "zuzudröhnen".
Die Kontrolle verlieren
Auch das Leiden an Kontrollverlusten ist durchaus vergleichbar. Die Dosis muss gesteigert werden, um immer wieder zu neuen "Kicks" zu kommen. Und wenn der Stoff abgeht, tauchen Mangelerscheinungen auf.
Die seelischen Grundstrukturen sind bei all diesen Süchtigen durchaus vergleichbar. Aber handelt es sich auch im medizinischen Sinn um Sucht? Eine mögliche Antwort liegt im noch nicht gänzlich erforschten Bereich der Biochemie. Endorphine, körpereigene Substanzen, die eine ähnliche Wirkung wie Morphium haben, filtern Angst und Schmerz. Sie blockieren oder stimulieren an den Empfangsstationen im Gehirn die Nervenzellen und damit Wahrnehmungen, Gedanken und Gefühle. Unsere Stimmung und Motivation, sprich unsere Lust ist davon abhängig.
Ob man nun an Medidation ein besonderes Vergnügen findet oder an Meskalin, an bestimmten Kultformen oder an Kokain, süchtig ist man dann, wenn man dieses Verhalten nicht mehr kontrollieren kann. Der Kontrollverlust ist nach herrschender Meinung das zentrale Merkmal aller Suchtprobleme, auch wenn man bis heute zu keiner allgemein anerkannten Definition des Suchtbegriffes gekommen ist.
Versunken im Info-Overflow
Eine relativ neue Verführung zu suchthaftem Verhalten bietet der Computer. "Versunken im Info-Overflow" betitelt der Autor das Kapitel über Internetsucht. Die einseitige Beschäftigung mit dem neuen "Lebensmittel" führt zu körperlichen Veränderungen, Fachleute sprechen von "De-Realisation".
Psychologen erklären sich die Faszination Computer mit dem Phänomen "Flow". Er beschreibt den Zustand des völligen Aufgehens in einer Tätigkeit. Der User vergisst alles um sich herum und wird gleichsam "eins mit der Maschine". Immer mehr verfallen gänzlich der verlockenden Cyberwelt und landen dann nicht selten auf einer Webpage für Online-Süchtige.
Mäßigung statt Entzug
Hilfe und Selbsthilfe nehmen im Buch "Sucht ohne Drogen" großen Raum ein. Die Tipps für Internet-Süchtige muten auf den ersten Blick paradox an. Die Empfehlung, sich einer Online-Selbsthilfegruppe anzuschließen, klingt ein wenig wie einem Alkoholiker zu raten, sich in einer Bar über seine Probleme auszulassen. Die amerikanische Psychologin Kimberley Young steht jedoch zu ihrem Erfolgsmodell:
"Mein Ansatz für eine Behandlung ist ähnlich wie derjenige für Essstörungen. Statt totaler Abstinenz werden Techniken zur Mäßigung geübt. Das Internet hat ja durchaus sinnvollen Nutzen im beruflichen oder akademischen Leben. Essstörungen sind ja auch nicht mit völliger Abstinenz von der Nahrungsaufnahme zu heilen."
Sehnsations-Sucht
Kaufrausch, Kleptomanie oder die Sucht nach dem "Kick" durch Extrem-Sport - alles, was spektakulär ist und relativen Neuigkeitswert hat, ist für Massenmedien natürlich ein gefundenes Fressen. Süchte werden zu Sensationen, ein seriöses Herangehen an das Thema gestaltet sich immer schwieriger. Vor allem, weil sich auch Drogenfachleute immer öfter angewidert abwenden und von der "Sucht nach Süchten" oder so genannten "Mode-Süchten" sprechen.
Den Autor Werner Gross machen diese gesellschaftlichen Tendenzen wenig glücklich. Für ihn gibt es immer noch zu viele Menschen und Institutionen, die die stoffungebundenen Suchtformen verharmlosen, die Gefahren herunterspielen oder einfach nicht wahrhaben wollen.
Die Motive dahinter sind für ihn offensichtlich, wie etwa bei der Spielautomatenindustrie, die sich um ihre Profite sorgt oder den Krankenkassen, die kein Geld für neue Suchttherapien locker machen wollen. Für ihn erscheint jedoch auch die Gesellschaft äußerst kurzsichtig, da bei den stoffungebundenen Suchtkrankheiten die Kosten nicht gleich offenbar sind:
Ob sich einer krank arbeitet, krank frisst oder bis zur Dusseligkeit fernsieht, ist aus soziologischer Sicht für die Gesellschaft Privatsache. Nicht zuletzt deshalb wird sich die Gesellschaft erst dann wirklich mit diesen süchtigen Verhaltensweisen auseinandersetzen, wenn ihr Schaden entsteht.
Buch-Tipp
Werner Gross, "Sucht ohne Drogen. Arbeiten, Spielen, Essen, Lieben...", Fischer Taschenbuch, ISBN 3596152151.