Herz und Schmerz in Irland
Die Geschichte der Lucy Gault
William Trevors Roman ist ein altmodisches Buch und handelt von altmodischen Dingen - von Schuld und Vergebung, von Schicksal und unerfüllter Sehnsucht. Melancholie und ein Hauch von Romantik hängen in der Luft. Um Gewalt geht es aber auch.
8. April 2017, 21:58
Wer schnelle Stories, Sex, Drugs and Internet für die Insignien zeitgemäßer Literatur hält, wird schon des Covers wegen - der Kopf einer jungen Frau, die, das Gesicht dem Betrachter abgewandt, aufs Meer blickt - niemals zu William Trevors jüngsten Roman greifen. Und er hätte - aus seiner Sicht - auch Recht damit: "Die Geschichte der Lucy Gault" ist ein altmodisches Buch und handelt von altmodischen Dingen. Um Gewalt geht es freilich auch:
"Am Abend des 21. Juni 1921 verwundete Captain Everard Gault einen jungen Mann an der rechten Schulter" lautet der erste Satz. Obwohl man Captain Gault daraus wirklich keinen Vorwurf machen kann - immerhin verteidigt er seine Familie und sein Anwesen nur gegen einen geplanten Brandanschlag - fühlt sich dieser schuldig.
Die wundersame Rettung
Mit geschichtlichen Details wird der Leser in Trevors Roman nicht gerade drangsaliert. Es muss reichen, wenn man weiß, dass die Gaults Protestanten sind und dass Heloise, die Frau des Captain, Engländerin ist. Ab und zu tauchen ein paar Namen und Jahreszahlen auf. Mussolini wird genannt. Aber der geschichtliche Hintergrund, der eben auch Hintergrund bleibt, wird eher nach dem Muster des "Was-bisher-geschah" referiert.
Weil die Gaults wohl keine Ruhe mehr finden werden, beschließen sie, ihr irisches Anwesen zu verlassen. Die achtjährige Lucy hat dafür aber gar kein Verständnis, und entschließt sich zu einer verzweifelten Tat: Am Vorabend der Abreise läuft sie von zu Hause weg. Als man ein Stück ihres Kleides am Meeresstrand findet, gibt man sie schnell verloren. Offenbar hat Lucy Selbstmord begangen. Tatsächlich aber liegt die Ausreißerin mit einem schwer lädierten Knöchel im Wald und wird dort, nachdem der Captain und seine Frau längst abgereist sind, halbtot gefunden und vom Pförtnerehepaar der Gaults gesundgepflegt.
Des Meeres und der Liebe Wellen
Dafür, dass "Die Geschichte der Lucy Gault" von solch dramatischen Ereignissen erzählt, ist es ein erstaunlich ruhiges Buch. Die Wahrheit ist jedoch, dass die Beiläufigkeit, mit der die Perspektiven gewechselt werden, vor allem Langeweile produziert - oder aber Kitsch; dann nämlich, wenn sich der Roman an einigen wenigen Stellen einmal dazu aufschwingt, den sanften Wellengang, in dem das Leben und Sterben der handelnden Personen und des Restes von Europa an einem vorbeiplätschert, mit dem Sturm individueller Leidenschaft ein wenig aufzuwühlen:
Als sie aufbrachen, um sich das Meer anzusehen, blies der Wind so stark, dass sie einander kaum verstanden. Die Wellen stiegen wie wilde, weiße Pferde, wie Geisterformen, die zu Schaum explodierten, eine jagte die nächste, während sie brachen. Das Dröhnen und Donnern der Brandung schluckte das Windgeheul, eine Meermusik, die nur hierher gehörte. Als sie sich im Wasser umarmten, schmeckten sie das Salz auf den Lippen des anderen. Beide waren bis auf die Haut durchnässt, Lucys Haar hing in feuchten Strähnen herunter, Ralphs klebte ihm fest am Schädel. Die Wildheit des Sturmes hielt sie genauso in Bann wie ihre Liebe.
Zu tristem Dasein verdammt
Aus Lucy und Ralph, so viel sei hier verraten, wird nichts werden. William Trevor, dessen Roman aus undurchsichtigen Gründen für den Booker Prize nominiert und von den Times zu den "Büchern des Jahres" gezählt wurde, hat das grausame Schicksal eines beschädigten und weitgehend ereignislosen Lebens über seine Protagonistin verhängt, die dieses mit Seidenstickerei und Besuchen bei jenem, mittlerweile in einer psychatrischen Anstalt einsitzenden, Mann zubringt, den ihr Vater einst in die Schulter schoss und mit dem das ganze Unglück seinen Lauf nahm.
Niemand ist seines Unglücks eigner Schmied ist die Einsicht, von der "Die Geschichte der Lucy Gault" inspiriert ist. Damit widersteht der Roman der aktuellen Ideologie der Schicksalslosigkeit, derzufolge ein jeder der Manager seiner eigenen Biografie und selber Schuld ist, wenn er diese nicht effektiv und gewinnbringend verwaltet. Um diese Zumutung zurückzuweisen muss man sich freilich nicht durch 300 Seiten eines Romans lesen, dem die Beschreibung eines Biskuittörtchens mehr Aufwand wert ist, als das Innenleben seiner Protagonistin.
Buch-Tipp
William Trevor, "Die Geschichte der Lucy Gault", übersetzt von Brigitte Jakobeit, Hoffmann und Campe, ISBN 3455077781