Beziehungen zwischen Kolonisatoren und Kolonisierten

Österreich-Ungarn - ein Kolonialreich?

Das Habsburgerreich hat mit den großen Kolonialreichen so manches gemeinsam. Zu diesem Schluss kommen junge Wissenschaftler, die an einem Projekt der Österreichischen Akademie der Wissenschaften teilgenommen haben.

Historiker über Postcolonial Studies und die Habsburgmonarchie

Eine Einladung zu einem Gedankenexperiment: Betrachten wir die österreichisch-ungarische Monarchie - versuchsweise - als Kolonialreich und die Länder und Gebiete der Krone als habsburgische Kolonien.

Der Gedanke mag fremd erscheinen: Kein Salzwasser trennte ein "Mutterland" von fernen Territorien, die Unterworfenen gehörten keiner anderen "Rasse" an und nur zum Teil anderen Religionen, es galt kein koloniales Sonderrecht.

Zwischen Habsburgischem Mythos und (Post-)Kolonialismus

Bei ihrer Betrachtung der Habsburgermonarchie greifen Kultur- und Sozialwissenschafter auf Ideen und Theorien zurück, die in einem (zumindest scheinbar) ganz anderen Zusammenhang entstanden sind: Schriftsteller, Wissenschaftler, Intellektuelle aus der Karibik, aus Afrika und Asien entwickelten die sogenannten "Postcolonial Studies".

Um die vielschichtigen Beziehungen und Wechselwirkungen zwischen (ehemaligen) Kolonisatoren und Kolonisierten zu beschreiben, wurden Begriffe wie "In-betweenness" und "Hybridität" geprägt - Metaphern für Lebenssituationen in der heutigen Welt.

Der Zusammenhang zwischen Herrschaft, Identität und Kultur steht im Mittelpunkt postkolonialer Analysen. Wie wurde in der Donaumonarchie mit dem "Anderen" umgegangen? Auf welche Weise wurde "Identitätspolitik" betrieben, welche Ähnlichkeiten gab es zwischen dem "Kulturkolonialismus" im Habsburgerreich und jenem der klassischen Kolonialreiche? Die Fragen geben Anlass zu einer lebhaften Debatte: lässt sich der (post)koloniale Ansatz auf Mitteleuropa übertragen?

Schiefer Haussegen in der Völkerfamilie

Der Triester Autor Claudio Magris leitete 1963 eine Renaissance der Donaumonarchie ein: Der "Habsburgische Mythos" umschreibt seither die positive Sinnstiftung der Habsburgermonarchie als rückwärtsgewandte Utopie einer "glücklichen und harmonischen Zeit", eines "geordneten und märchenhaften Mitteleuropa", schreibt die Historikerin Heidemarie Uhl.

Besonders in den 1980er Jahren kam es zu einem regelrechten Mitteleuropa-Boom, mit der gemeinsamen K. u. K.-Vergangenheit als positivem Bezugspunkt für Nachfolgestaaten auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs.

Die Nostalgie weicht in den Kultur- und Sozialwissenschaften einer eher nüchternen Auseinandersetzung mit der Doppelmonarchie. In dem komplexen Gebilde Österreich-Ungarn gab es ein starkes Gefälle in Wohlstand und Infrastruktur. Vertreter der deutsch-österreichischen und der ungarischen Eliten betonten die kulturellen Unterschiede, werteten andere Gruppen ab und benützten die (konstruierte) kulturelle Differenz zur Rechtfertigung von Machtpolitik. Andere ethnische Gruppen übernahmen das Muster und werteten ihrerseits regionale Minderheiten ab.

Buch-Tipp
Johannes Feichtinger, Ursula Prutsch und Moritz Csáky (Herausgeber), Habsburg postcolonial. Machtstrukturen und kollektives Gedächtnis, Studienverlag (Innsbruck) 2003, ISBN 3706518864.

Links
Texte und Hinweise zu Geschichte und Kultur der Österreichisch-Ungarischen Monarchie und ihrer Nachfolgestaaten
Österreichische Akademie der Wissenschaften

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