Fremdes. Neues. Anderes. Besonderes.

Wenn das zu Hörende quer durch geht

Das Ö1 Radiofeuilleton "Diagonal" ging am Samstag das tausendeste Mal über den Äther. "Was für ein Geschenk", meint die Autorin Marlene Streeruwitz in einem Essay für die Jubiläumssendung.

Radio. Das ist Stimmen. Das ist körperlose Anwesenheit. Das ist immer nebenbei. Irgendwie ist das immer nebenbei. Weil man oder frau ja sitzen muß. Beim Hören. Oder stehen. Oder gehen. Oder autofahren. In diesem Nebenbei des Hörens. In diesem den Stimmen folgen. Da werden aber dann erst Entwürfe möglich. Weltnahme. Bewegungslose Weltnahme. Reisen. Expeditionen die Stimmen und Töne entlang. Und so werden die Radiostimmen einem blinde Begleitung. Unterworfen nur im Ausschalten. Im jederzeit möglichen Ausschalten. Oder gar nicht mehr Einschalten.

Radio ist ja auch anstrengend. Kein Einwand ist möglich. Wir Medieneremiten können nur den Rahmen wählen. Einschalten oder Ausschalten. Der Inhalt. Den müssen wir nehmen. Oder doch diese schnelle Bewegung. Den Knopf nach links drehen. Auf Aus drücken. Und damit auch die anderen Hörer verlassen. Radio ist ja auch die Vorstellung der anderen, die hören. Mithören. Eine imaginierte Kommunikation ist das. Traut kann das sein. Beim Fahren in der Nacht. Vielleicht. Filmszenen. Wie unsere Medienwelten so gern ein wenig Kitsch vortäuschen. Aber. In dieser Vorstellung des geteilten Hörens ist das Radio beschrieben. Diese Vorstellung wird immer mitgehört. Bedingt die Reaktion auf das Gehörte. Wie hören das die anderen. Was hören die da. Was fangen die damit an. Wie kommt das bei denen an.

Der Vorgang des Radiohörens

Der Vorgang des Radiohörens ist nicht mit dem Ankommen der Sendung beendet. Dieser Vorgang erfüllt sich erst mit diesem Mitdenken. Die Reaktionen reflektieren die Reaktionen dieser vorgestellten anderen. Dieses entworfene Miteinanderhören. Das ist ein verführerischer Text. Da könnte es gleich reichen, nur noch Grußsendungen zu senden. Da kann sich jeder und jede dann vorstellen, vorzukommen. Eingeschlossen zu sein. Da kann jeder und jede sich grüßen lassen und damit die Täuschung vollenden zu existieren. Und die Volksmusik vervollständigt die Täuschung. Oder das Symphonische. Die Medienoberfläche wird die Außenfläche der Person. Oberflächliche Bestätigung. Sanfte Manipulation. Beruhigung in jedem Fall.

Auseinandersetzung kommt erst zustande, wenn sich die Stimmen äußern. Wenn in den Stimmen und Tönen Einzelne auftreten. Wenn Wissen und Erfahrungen von Einzelnen geäußert werden. Der Hörer und die Hörerin konfrontiert werden. Stimme und Hörer oder Hörerin einander gegenüberstehen. Und wenn das zu Hörende quer durch geht. Quer durch die Welt. Und schräg. Weil auch Seltsames auftreten darf. Nicht Verständliches. Jedenfalls nicht gleich Verständliches. Neues. Anderes.

Expeditionen in immer fremde Umgebungen

Radio gelingt immer dann, wenn die Stimme ein anderes ausdrückt. Damit kann man oder frau auch einer Meinung sein. Es muß mit dieser anderen Stimme gesagt werden. Nur so kann ein Selbst mitgedacht werden. Bei der Grußsendung muß das Selbst mit dem Medium verschmelzen. Oder beim Symphonischen. Keine Deutung ist zugelassen. Das, womit wir alle ununterbrochen beschäftigt sind. Die Deutung des Jetzt. Die Deutung unseres Jetzt. Die wird nur durch die Vielfalt der Stimmen ermöglicht. Durch den Ausdruck von anderem in anderen Stimmen und Tönen.

Reisen sind das dann. Expeditionen in immer fremde Umgebungen. Neue. Auch wenn es die bekannten Reiseziele sind. Die andere Stimme findet auch im Bekanntesten ein Fremdes. Neues. Anderes. Besonderes. All das hat die Sendung Diagonal nun 1000 mal aufs Exquisiteste geboten. Was für ein Geschenk.

Tipps
Zeitschrift Diagonal, direkt bei deren Redaktion zu bestellen: Redaktion Diagonal, Universität Siegen, Am Eichenhang 50, Zimmer C007, 57068 Siegen.

Medienkritik im Depot: Die nächste Veranstaltung findet am Montag, dem 15. Dezember statt. Depot, Breitegasse 3.

Anlässlich des "Diagonal"-Jubiläums hat Österreich 1 drei Doppel-CDs mit sechs "Diagonal-Städteporträts" herausgegeben: Rio/Shanghai, Dakar/Kathmandu und Damaskus/Rangun. Eine Doppel-CD kostet EUR 21,70 (Ö1-Club-Preis: EUR 19,52), der Package-Preis für alle sechs CDs beträgt EUR 58. Erhältlich im ORF-Shop.

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Marlene Streeruwitz - Uni Tübingen
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