Hölle oder Paradies
Verlorene Welt der Kindheit
Erinnern Sie sich an Ihre Kindheit? Was fällt Ihnen zuerst ein: der Regen auf dem Gesicht? Wie Ihre Lieblingskekse schmeckten? Das Versteck im Garten? Und was mag ein kolumbianisches irisches, kurdisches Kind erlebt haben? Oder ein Kind im Irak?
8. April 2017, 21:58
Verlorene Welt der Kindheit
Die Hölle muss der misanthropischste Autor der Gegenwart Fernando Vallejo in seiner Kindheit erlebt haben, glaubt man dem erstem seiner autobiografischen Bücher, "Blaue Tage. Eine Kindheit in Medellin“. Das beginnt mit dem Kampf um die Nachmittagsschokolade, die ihm das Kindermädchen reichen soll, wenn Mama in der Stadt ist. Was natürlich nicht geschieht und entsprechende Reaktionen nach sich zieht: Der etwa Dreijährige haut in blindem Zorn seinen Kopf auf das Pflaster des Innenhofs, während das Kindermädchen höhnisch grinsend daneben steht. Ob sie die Schokolade selber konsumiert hat, erzählt Vallejo nicht, aber das ist auch nicht wichtig, es ändert nichts an der grundsätzlich gewalttätigen Grundstimmung dieser kolumbianischen Kindheit.
Sogar die Natur lehrt Gewalt, dringt als Hochwasser führender Bach mit dem Namen La Loca, die Irre, in die heiligsten Gemächer der Familie ein und zerstört das Klavier, eine Tätigkeit, die der Kleine später mit Vergnügen fortsetzt, als würde der Boden dieses Stückchens Welt Gewalt ausatmen, nichts anderes zulassen als Gewalt.
Vallejo zog mit 29 Jahren nach Mexiko, um sich dem Einfluss seiner Heimat zu entziehen. Er legte seine kolumbianische Staatsbürgerschaft ab, um gegen den kolumbianischen Präsidenten Álvaro Uribe zu protestieren, und als man ihm 2003 den renommiertesten kolumbianischen Literaturpreis "Romulo Gallegos" anbietet, spendet er die 100.000 Euro umgehend den Straßenhunden von Caracas.
Fantasieland Kamtschatka
Der kleine Argentinier Harry schuf sich, als er zehn war, ein Fantasieland, das er in seinem Lieblingsbrettspiel eroberte und verteidigte: Kamtschatka. Und dieses Fantasieland, dieses Spiel, dieses Wort wurde zu einem Symbol. Erst zu dem Symbol des Ortes, an dem die Familie des regimekritischen Anwalts untergetaucht ist. Und dann, nachdem sein Vater verraten und verhaftet worden ist, zu einer Durchhalteparole, denn "Kamtschatka" war das Wort, das ihm sein Vater beim Abschied, bei seiner Verhaftung ins Ohr geflüstert hat.
Fast dreißig Jahre später schrieb Marcelo Figueras die Geschichte dieses Untertauchens auf, erinnert sich an Vorsichtsmaßnahmen, an Decknamen, Heimlichkeiten, Geflüster und an seine Eltern und ihre Freunde. Gewalt und Gewalttätigkeiten haben keinen Platz in dieser Geschichte.
Die Erinnerungen der verschiedenen kurdischen Autoren dagegen sind von Gewalt geprägt. Gewalt war etwas Selbstverständliches, gehörte zum Leben wie die Hitze, schreibt Salim Barakat, der in Syrien nahe der türkischen Grenze aufgewachsen ist. Hart und wild sein, das war das Ideal, dafür wurden die Buben gelobt. Spatzen mit dem Luftgewehr zerfetzen, Hühner steinigen, "Feinde" verprügeln, das war normal. Und plötzlich wurden sie selber zu "Feinden", weil sie Kurden waren und nicht sein sollten. "Wir waren Kinder ohne Kindheit", das Fazit von Salim Barakat.
Die alltägliche Gewalt
Ein wenig mehr Raum zum Träumen hatte Hiner Saleem. Seine Familie war aus dem Norden des Irak in den Süden geflohen, nachdem sie Zeugen des Überfalls von Milizsoldaten auf den Volksschullehrer ihrer Stadt Akré geworden waren. Das Städtchen Bilé, ihre neue Heimat, war fest in kurdischer Hand: es wurde von den Peschmergas und einem kurdischen General kontrolliert. Hier entdeckt der kleine Hiner den Trost der Kunst: die Musik, die Posie, die mehr ist als nur ein Liedtext, und die Kraft der Bilder und des Bildermachens.
Fremd im eigenen Land
Ein Bild aus Linas Erinnerungen: "Ein gelber Luftballon landet auf meiner Nase und küsst sie. Die Seite mit Abd al-Karims Gesicht darauf hat mich berührt. Ich tippe gegen den Ballon und lasse ihn wieder hochfliegen. Abd al-Karim, unser Präsident, dreht sich am Himmel und macht Purzelbäume. Ich jage ihn durch den Hof, sehne mich nach seinem warmen Gummigeruch. Der Ballon sinkt wieder herab, diesmal in meine Arme...".
Ballonspiele, Planschen im Fluss, die assyrische Kinderfrau - beinahe unbeschwert war es, im Bagdad der 1960er Jahre ein jüdisches Kind zu sein, erzählt Mona Yahia. Doch dann verwandelt sich das weltoffene Bagdad. "Fremde", Andersgläubige werden verfolgt, in der jüdischen Schule fehlen immer mehr Kinder. Als Lina 16 ist, entschließen sich ihre Eltern zu Flucht.
Allein unter Verbrechern
Die Gewalt, der sich das Alter Ego von Paule Constant ausgesetzt sieht, geht von der Natur aus. Denn die Gewalt, vor der sich die Eltern und die Behörden fürchten, ist gewissermaßen gezähmt und wird "unter Verschluss" gehalten: der Vater der kleinen Siebenjährigen ist der neue Gobernator der Strafkolonie Cayenne in Französisch Guayana. Er hat keine Zeit auf das Kind aufzupassen, und die Mutter ist dem religiösen Wahn verfallen, ein reines Leben zu führen und hat auch keine Zeit für ihre Tochter. Und so gerät die Kleine in der Gesellschaft ehemaliger Schwerverbrecher in eine Folge verrückter Abenteuer.
Exotisches Irland
Wunderbar exotisch: die Erinnerung von Alice Taylor an das karge, genügsame und freie Leben inmitten einer großen Familie und einer intakten Dorfgemeinschaft Ende der 1940er Jahre im südwestlichen Irland. Von Hunger und Repressionen geprägt: die Kindheit des Landbesitzersohnes Da Chen im China der frühen 1960er Jahre, als Mao und seine Revolutionäre das Land von Grund auf umkrempelten. Und voll Liebe und Glück, trotz aller Fährnisse und aller Schikanen durch die französischen Kolonialbeamten: die Kindheit und Jugend von Amadou Hampaté Ba, des großen "Alten Mannes" der westafrikanischen Literatur.
Hör-Tipp
Terra incognita, Donnerstag, 9. April 2009, 11:40 Uhr
Buch-Tipps
Fernando Vallejos, "Blaue Tage. Eine Kindheit in Medellin", Suhrkamp
Marcelo Figueras, "Kamtschatka", Nagel & Kimche
Salim Barakat, "Der eiserne Grashüpfer. Geschichte eines kurdischen Kindes", Lenos
Hiner Saleem, "Das Gewehr meines Vaters. Eine Kindheit in Kurdistan", Malik
Mona Yahia, "Durch Bagdad fließt ein dunkler Strom", Eichborn
Paule Constant, "Die Tochter des Gobernators", Frankfurter Verlagsanstalt
Alice Taylor, "Zur Schule durch die Felder. Eine irische Kindheit", Lamuv
Da Chen, "Die Farben des Berges. Eine Kindheit in China", Knaur TB
Amadou Hampate Ba, "Jäger des Wortes. 1. Band", Peter Hammer Verlag
Amadou Hampate Ba, "Oui, mon Commandant! 2. Band", Peter Hammer Verlag