Lebensbilanz eines Philosophen
André Glucksmann ist 70
Der streitbare Geist geht Konflikten nie aus dem Weg und nimmt schon einmal in Kauf, dass sich Freunde von ihm abwenden, wie zuletzt, bei seinem Eintreten für Nicolas Sarkozy. Nun sind seine Lebenserinnerungen erschienen.
8. April 2017, 21:58
André Glucksmann, 1937 in Boulogne nahe Paris geboren, Kind österreichisch-jüdischer Eltern, zählt gemeinsam mit Bernard-Henri Lévy und Alain Finkielkraut zu den Vertretern der französischen "Neuen Philosophie".
Mit seinen Büchern, Essays und öffentlichen Auftritten hat er immer wieder für Aufsehen und Kontroversen gesorgt. In seinem neuen Buch, das auf Deutsch unter dem Titel "Wut eines Kindes, Zorn eines Lebens. Erinnerungen" erschienen ist, setzt sich Glucksmann mit seiner Herkunft und seinen Erfahrungen mit gesellschaftlichen Strömungen, politischen Akteuren und der ganzen Welt auseinander.
Eine Kindheit im Geist des Widerstands
Die Eltern, die bereits nach Palästina gegangen waren, kehrten 1930 nach Deutschland zurück, um sich am antifaschistischen Widerstand zu beteiligen, Ende 1937 gelingt ihnen die Flucht nach Frankreich. Rubin - André Glucksmanns Vater - ertrinkt 1940 nach einem Angriff auf das Flüchtlingsschiff, mit dem er nach England unterwegs war. Martha, Andrés Mutter, die in der Widerstandsbewegung tätig ist, bringt ihre drei Kinder mit viel Mut durch die oft ausweglose Zeit.
Nach dem Krieg arbeitet Glucksmanns Mutter in einem Waisenhaus für jüdische Flüchtlingskinder, das sich in einem Schloss der Familie Rothschild befand. Bei einem Besuch der Rothschilds läuft der kleine André mitten in den Kreis der Besucher und wirft wütend seinen linken Schuh gegen die Wohltäter - der Ausbruch eines Kindes wider den scheinbar geglückten Übergang in die Normalität des Lebens.
Martha, die in Frankreich nicht Fuß fassen kann und will, geht zurück nach Wien. Das halbwüchsige Kind André bleibt allein in Paris zurück, engagiert sich als 13-Jähriger in der kommunistischen Partei und tritt im Alter von 19 Jahren wieder aus.
Pariser Mai 1968
Glucksmann ist er einer der engagierten Wortführer. Durch seine Kritik am Personenkult um Mao und am Kommunismus macht sich Glucksmann viele Feinde. Doch Alexander Solschenizyns Werk "Archipel Gulag" hatte in Frankreich zu einer Auseinandersetzung mit den "Segnungen" des Kommunismus geführt.
Als dann die "boat people" vor den kommunistischen Siegern von Nordvietnam auf das offene Meer flüchteten, und keiner sie aufnehmen wollte, erreicht Glucksmann, dass sich Jean-Paul Sartre und der Philosoph und Soziologe Raymond Aron, die wegen des kommunistischen Engagements Sartres zerstritten waren, gemeinsam für die Aufnahme der "boat people" in Frankreich einsetzten.
Engagierte Totalitarismuskritik
Mitte der 1970er Jahre schreibt Glucksmann ein Buch über "Meisterdenker", über die deutschen Philosophen des 19. Jahrhunderts, das für viele Diskussionen sorgt. Glucksmann argumentiert, dass diese Philosophen durch ihre apodiktischen Thesen, als eine Art "Wegbereiter" für Totalitarismus und Holocaust gesehen werden können.
Glucksmann hat als Assistent mit Raymond Aron zusammengearbeitet und sich sein ganzes Leben mit den Grundfragen des Menschseins und den Möglichkeiten, Stellung zu beziehen, befasst. Er hat Kriegsschauplätze besucht, war heimlich in Tschetschenien, Prag, Bosnien und 1989 in Rumänien - immer ist es ihm darum gegangen, die Menschen in ihrem Kampf gegen Unterdrückung zu unterstützen.
Gegen die Pragmatik des Arguments
In "Die Macht der Dummheit" - erschienen 1985 - ist zu lesen: "Worüber lacht man, wenn nicht über die Dummheit? Sie wohnt ebenso im Lacher wie im Lächerlichen; die Spannung, die durch die Wahrnehmung des Komischen entsteht, schließt jede Erklärung durch eine Überlegenheit des Spottenden aus: Jedes Lachen ist auf irgendeine Weise ein Lachanfall und dennoch alles andere als verrückt, denn es bringt zum Ausdruck, dass mein Warten umsonst war."
Glucksmanns Denken wendet sich gegen die Pragmatik des Arguments und setzt sich immer für die bedrohte(n) Freiheit(en) der Anderen ein.
Wider den Stachel löcken
In dem Buch "Der Stachel der Liebe. Ethik im Zeitalter von AIDS" (1995) zeigt Glucksmann, dass es nicht nur um die Bekämpfung einer Krankheit geht, sondern, dass AIDS als eine Chiffre für die Verantwortung für den Anderen gesehen werden kann, indem ich mich für den Anderen als vertrauensvoll erweise.
André Glucksmann - dies liest man in vielen Rezensionen über seine zahlreichen Bücher - ist sich immer "treu" geblieben. Das zeigt sich auch an seinem äußeren Erscheinungsbild: immer dunkel gekleidet und eine Frisur mit Ponyfransen. Bei Podiumsdiskussionen ist er gewohnt, von anderen angegriffen zu werden, und unermüdlich erklärt er dem Publikum, seinen Freunden und Gegnern seine Sichtweise des Weltenlaufes, der für ihn derzeit unter anderem von einer zu großen Nachgiebigkeit der europäischen Demokratien gegenüber einem diktatorisch handelnden russischen Präsidenten geprägt ist.
Das Wort ist Glucksmanns Mittel um gegen Unterdrückung und Unfreiheit anzukämpfen, und wie er im letzten Kapitel seiner Erinnerungen "Au revoir" schreibt, empfindet er sich als ein "Spross des Zufalls" und fragt: "Was sollte ich anderes getan haben, als die Wut eines Kindes, in einen lebenslangen Zorn zu verwandeln?"
Hör-Tipp
Dimensionen, Dienstag, 19. Juni 2007, 19:05 Uhr
Buch-Tipp
André Glucksmann, "Wut eines Kindes - Zorn eines Lebens" aus dem Französischen übersetzt von Bernd Wilczek, Verlag Nagel & Kimche, ISBN 9783312003853
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