J.R. Moehringers Kinderheitserinnerungen

Tender Bar

J.R. Moehringers autobiografische Kindheitserinnerungen sind ein Buch für alle, die eine gut erzählte Geschichte mögen, und die angesichts eigener Erfahrung mit zerbrochenen Familien nachspüren wollen, wie eine solche Enttäuschung nachwirkt.

Das ist ein über alle Maßen beglückendes und aufwühlendes Buch - für das Publikum. Über ein furchtbar bitteres Kinderschicksal - das des Autors J.R. Moehringer. JR wie junior. Lange weigerte er sich, diesen Name zu tragen. Denn er war wie die stete Erinnerung an den Vater, einen New Yorker Radio-Moderator, Säufer und Schläger. Immer auf der Flucht vor seinem Sohn, der ihn nur als Stimme im Radio fand, so gut wie nie im Leben. Und wenn doch, dann endete das meist in einer Katastrophe.

Rituale der Männlichkeit

Da ist eine tiefempfundene Einsamkeit. Eine Verwirrung darüber, wer ich eigentlich bin. Es fühlt sich so an, als wäre die Hälfte dessen, was mich ausmacht, ein großes Rätsel. Und das erzeugt einen gewissen Hunger nach Leben - naja, in meinem Fall eher einen gewissen Durst. Aber ich kenne genau so gut auch die Angst vor dem Leben.

Der 43-Jährige kennt das Thema "Sucht". Er war Alkoholiker. Wie er das wurde, auch davon handelt sein Buch "Tender Bar".

In den 1970ern geht der kleine J.R. mit seinem Onkel Charly, einem Bar-Keeper, zum Dienst, ins "Dickens", einer gut besuchten Kneipe auf Long Island. Und da: endlich Männer!

Der Junge, der nur von der Mutter aufgezogen wird, bewundert die Trinker. Ihren Geruch, ihre männlichen Saufrituale. Außerdem können sie erzählen. Es sind gebildete Trinker. Sie haben Rilke und Faulkner in der Jackentasche. Und sie sind lieb zu ihm. Deshalb bilanziert Moehringer: "Die erste Lektion, die ich von den Männern im 'Dickens' lernte, war Vertrauen."

Der Zufluchtsort der Männer
Anfangs erledigt er kleine Botengänge für die Männer. Später notiert er sich ihre Geschichten. Dann fängt er an, mitzutrinken. Selbst als er in Yale studiert, kommt er in den Semesterferien zurück in die Bar. Als seine erste Liebe in die Brüche geht, ebenfalls. Das "Dickens" ist wie eine Heimat, eine Familie für ihn.

"Tender Bar" ist J.R. Moehringers Hommage an diesen Zufluchtsort für Männer, die gemeinsam ihre Wunden lecken und es ist eine manchmal arg idealisierend wirkende Liebeserklärung an seine Mutter, die die Sehnsucht ihres Sohnes nach männlichen Vorbildern verstand und diskret versuchte, ihm gelegentlich ein paar andere Orte zu zeigen, an denen Männer tätig sind. Ohne seine Mutter wäre er einer dieser vielen verlassenen und deshalb wütenden und bitteren Männern geworden, meint Moehringer.

Lebenserinnerungen, kein Roman
"Tender Bar" ist J.R. Moehringers Autobiografie in Form einer locker erzählten literarischen Reportage. In Amerika nennt man so etwas "Memoires" - die Lebenserinnerungen einer durchschnittlichen Person. Im Deutschen gibt es keine entsprechende Bezeichnung. Deshalb verfiel der Fischer-Verlag darauf, Moehringers Buch einen Roman zu nennen. Dabei sagt der Autor: "Was ich erzähle, ist 100-prozentig wahr. Ich berichte wie ein Journalist über mein eigenes Leben, als wäre es eines meiner Themen. Ich habe Leute über mich selber interviewt. Als wäre ich nicht im Raum."

Mehrere Zeitungen und Zeitschriften in Amerika haben "Tender Bar" zum Buch des Jahres gekürt. Es ist Moehringers süß-versöhnlicher Ton, der selbst in der schlimmen Traurigkeit des Knaben schon die Wurzeln des besseren Lebens und einer guten Geschichte sieht. Denn je hoffnungsloser die Lage, desto überlebenswichtiger ist Optimismus. Dieses Buch ist durchdrungen davon. Das wirkt auf uns hier wahrscheinlich ein wenig fremd. Aber es tut gut. Auch weil "Tender Bar" kein bisschen Kitsch enthält.

"Tender Bar" wird auch auf Deutsch das Buch des Jahres für all jene Leser sein, die eine gut erzählte Geschichte mögen, und die vielleicht angesichts eigener Erfahrung mit zerbrochenen Familien nachspüren wollen, wie eine solch tiefe Enttäuschung nachwirkt.

Hör-Tipp
Ex libris, jeden Sonntag, 18:15 Uhr

Buch-Tipp
J.R. Moehringer, "Tender Bar", Fischer Verlag 2007, ISBN 9783100496027

Link
Fischer Verlag - Tender Bar