Kompositionen fürs Handy
Die Avantgarde der Klingeltöne
Es gibt Situationen im Alltag, die ebenso schwer zu vermeiden wie zu ertragen sind, darunter fällt das Läuten von Handys. Genervt vom banalen Klingeln? Gerhard Dienstbier weiß Abhilfe: Er bat heimische Neutöner, Klingeltöne zu komponieren.
8. April 2017, 21:58
Die Kunst des Klingelns
Es gibt Situationen im Alltag, die ebenso schwer zu vermeiden wie zu ertragen sind. Etwa das andauernde, flächendeckende Klingeln von Mobiltelefonen.
"Es gehört sicher zu den Errungenschaften der mobilen Telefonie, dass es im öffentlichen Raum keinerlei Rückzugsgebiete mehr gibt. Egal ob in der U-Bahn, in Kaffeehäusern, auf der Straße, permanent klingelt irgendein Handy und ich bin dem ausgesetzt", klagt Gerhard Dienstbier, Leiter der Wiener Taschenoper.
Erlösung von der Kakophonie des Alltags
Vom jüngsten Hit bis zum alten Flohwalzer reicht die Palette der akustischen Zumutung. Doch dürfen Feinfühlige Zeitgenossen auf Erlösung hoffen, denn jetzt nimmt sich die Kunst der Kakophonie des Alltags an.
Zu verdanken ist dies Gerhard Dienstbier. Der Spezialist für zeitgenössisches Musiktheater traf eines Tages den Komponisten Wolfgang Mitterer auf der Straße. "Er hat ein neues Handy gehabt und das hat zu klingeln begonnen und ich hab gesagt: Was ist denn das?", erinnert sich Dienstbier. Mitterer habe geantwortet: "Den Klingelton hab ich mir selbst komponiert." Darauf Dienstbier: "Das will ich auch."
Avantgarde zum Herunterladen
Dienstbier zögerte nicht lang: Vor kurzem hat er die Internetplattform earsahead gegründet, für die er neben Wolfgang Mitterer weitere heimische Neutöner wie Wolfgang Schlögl, Christian Fennesz, Olga Neuwirth und Patrick Pulsinger bat, Klingeltöne zum Herunterladen zu komponieren.
Nicht alle waren gleich auf Anhieb glücklich mit dem Ansinnen. Sofa-Surfer Wolfgang Schlögl etwa erinnerte sich sofort an das traurige Schicksal eines befreundeten Kollegen: "Ich hatte einen guten Freund in Los Angeles, der war Musiker. Er musste aus existenziellen Gründen einen Job annehmen, wo er für Columbia Records den gesamten Backkatalog in Ringtones umprogrammieren musste. Und das hat ihm eine Depression beschert."
Akustische Zeichen und Musiknummern
Bei earsahead ist derlei freilich nicht zu befürchten. Gerhard Dienstbier machte keinerlei Vorgaben für sein Projekt, lediglich sein Credo sollte beherzigt werden: "Ich kann's ja nicht abschaffen, ich kann nur versuchen, andere Musik im öffentlichen Raum zum Klingen zu bringen. Wenn man diese Klingeltöne durchhört, wird man feststellen, dass manche Leute sich dem Thema so genähert haben, dass sie ganz klassisch kleine akustische Zeichen in die Landschaft setzen, andere wirklich Musiknummern komponieren."
Wolfgang Schlögl, der alsbald Gefallen am Komponieren der Klingeltöne fand, bezeichnet sich selbst jenen zugehörig, die vollständige kleine Werke der Tonkunst erschufen: "Vier Klänge, die in sich zusammenhängen und quasi eine Familie bilden." Eine nerviger Ton für die eine, ein beruhigender Ton für eine andere Anrufergruppe.
Wider die Verrohung der Ohren
"Die Musik, die man im Radio hört, kann man aufs Handy runterladen und die klingt dann am Handy ungleich schlechter. Und das führt zu Hörgewohnheiten und zur Verrohung der Ohren", so Schlögl.
Eines fernen Tages, davon ist Wolfgang Schlögl überzeugt, wird es keine starren Grenzen mehr zwischen Musik auf der Bühne oder in der Bim geben: "Klänge des Jetzt in den Alltag einzubauen, das ist das Schöne an der Sache. Wenn alltägliche Tätigkeiten durchsetzt sind mit Klängen, die unterbewusst einfließen. Wenn das Klänge erreichen können, ist das eine herrliche Vernetzung."
Hör-Tipp
Leporello, Freitag, 15. Juni 2007, 7:52
Links
earsahead
Wiener Taschenoper