Aus der Bahn geworfen
Das Glück in glücksfernen Zeiten
Wilhelm Genazino erzählt die Geschichte seines traurigen Helden ironisch und brillant: Gerhard Warlich, der eigentlich nur "halbtags leben" möchte, wird vom Wunsch seiner Freundin nach einem Kind aus dem ruhigen Gleis geworfen.
8. April 2017, 21:58
Wer ein Buch von Wilhelm Genazino mit dem Stift in der Hand liest, weil er nach markanten Stellen sucht, der wird auf fast jeder Seite fündig. Genazino ist der Zitatweltmeister der deutschen Literatur, genauer: Weltmeister im Hervorbringen zitierwürdiger Stellen, nicht Weltmeister im Zitieren. Deshalb der Versuch einer Besprechung anhand von sieben Zitaten.
Zitat 1
Ich höre jetzt nur noch das Wehklagen meiner ratlosen Seele. Sie möchte gern etwas erleben, was ihrer Zartheit entspricht, und nicht immerzu dem Zwangsabonnement der Wirklichkeit ausgeliefert sein.
Es spricht der typische Genazino-Held, ein äußerlich angepasster, innerlich jedoch bodenloser Wirklichkeitsteilnehmer, der die Vorstellung von seiner eigenen Außergewöhnlichkeit schon vor langer Zeit aufgeben musste, im Mittelmaß aber keinen Trost findet. Der Mann hier ist Anfang 40, heißt Gerhard Warlich (sein Autor liebt sprechende Namen) und ist Organisationsleiter einer Großwäscherei, obwohl die Abfassung einer Dissertation über Martin Heidegger ihn nicht speziell für diese Aufgabe qualifiziert zu haben scheint.
Warlich ist kein Versager, jedoch scheint der "Millimeterabstand zum Wahnsinn", den Genazinos Protagonisten in früheren Büchern zu wahren wussten, bei ihm schon gefährlich geschrumpft. Er lebt mit einer Frau namens Traudel zusammen, obwohl er die dauerhafte Anwesenheit eines anderen Menschen "eigentlich" unerträglich findet.
Zitat 2
Auf diesem Eigentlich beruht das halbe Leben! Ich habe den Beruf eines Wäschereigeschäftsführers, aber eigentlich drängt es mich nach ganz anderen Dingen.
Gerhard Warlich träumt von der Eröffnung einer "Schule der Besänftigung", einer Abendschule, an der er Vorträge über den "Aufbau des Glücks in glücksfernen Umgebungen" halten will, denn:
Zitat 3
Wir müssen uns das Außerordentliche selber machen, sonst tritt es nicht in die Welt.
Anders als früheren Helden Genazinos ist diesem jüngsten aber die Nische, in der er seine Visionen vom eigentlichen Leben verwirklichen könnte, verwehrt. Der Kulturstadtrat nimmt die Idee zwar mit Enthusiasmus auf, missversteht sie aber konsequent als die Gründung einer "Pop-Akademie" für freizeitratlose Jugendliche. Warlich hingegen möchte nicht mehr Aktivitäten in die menschliche Lebenszeit hineinstopfen, im Gegenteil.
Zitat 4
Wenn ich könnte, würde ich das Projekt "Halbtags leben" erfinden. Jeder Mensch sollte das Recht haben, sich in der zweiten Hälfte des Tages von der ersten zu erholen.
Warlich selbst hat es sich zur Gewohnheit gemacht, ab Mittag ziellos durch die Stadt zu streifen, was ihm schließlich zum Verhängnis werden wird. Der verschrobene Erfüllungsgehilfe des Kapitalismus ist also zugleich mit der Aushöhlung von dessen Basis beschäftigt. So gelingt es Genazino einmal mehr, gerade über ein extrem vereinzeltes Bewusstsein die Übereinkünfte des gesellschaftlichen Ganzen in Frage zu stellen. Zu Hause wird der Ich-Erzähler abends von der nächsten Leistungsanforderung heimgesucht, von seiner Lebensgefährtin.
Zitat 5
Es wird Traudel gefallen, wenn ich mit dem Gesicht eines dauerhaft befriedeten Mannes auf dem Sofa liegen und ein bisschen eingeschlafen sein werde.
Das Bild einer trotz Abnutzung schönen Zweisamkeit lebt von körperlichen Vereinigungen, gemeinsamen Theaterbesuchen und auf deutsche Art gehobenen kulinarischen Genüssen (zur Seezunge trinken die beiden Bordeaux), so lange bis Traudel ihrerseits den Wunsch nach Veränderung bekundet. Weil sie, wie ihr Gefährte meint, für ihr Leben "ein paar deutliche Geschmacksverstärker" brauche, wünscht sie sich Kinder. Dieser Kinderwunsch ist es, der bei Warlich, der offenbar selbst Kind geblieben ist (und sich als "Untermieter bei Traudels Busen" betrachtet), Panik auslöst. Die Anzeichen für die bevorstehende Entgleisung sind nicht unbedingt spektakulär, Warlichs Erschütterungsschwelle wird jedoch niedriger.
Zitat 6
Es gibt kaum etwas Niederschmetternderes als einen plötzlich anhaltenden Reisebus, aus dem etwa sechzig Rentner herauswanken.
Im Rentner als Rudeltier ohne erkennbare subjektive Bedürfnisse erscheint Warlichs Sehnsucht nach der Einmaligkeit des Individuums pervertiert. Im Büffetsturm der Pensionisten erkennt der potenzielle Frühpensionist wohl die ihn zugleich bewegende Gegen-Sehnsucht, nirgends mehr herausragen zu müssen. Die Flucht in die Klinik ist eine Flucht vor der Verantwortung.
Zitat 7
In Wahrheit will ich nicht mehr klug sein; es ist alles lächerlich, besonders nachts.
Das erinnert wohl nicht zufällig an Thomas Bernhards Satz "Es ist alles lächerlich, wenn man an den Tod denkt." Und an Bernhard erinnern auch Genazinos Lust am sprachlichen Insistieren und seine Kunst, zwischen Tragik und Komik hin- und herzuspringen. Den Glauben an das eigene Genie hat Genazino seinen Figuren allerdings gründlich ausgetrieben, ihr Scheitern ist kläglich, nicht großartig. Wie die Helden Bernhards oder auch Kafkas haben sie wenig Bewegungsfreiheit, sie sind an ihren Platz geschmiedet - doch das kann man ihnen so wenig vorwerfen wie ihrem Autor.
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"Das Buch der Woche" ist eine Aktion von Ö1 und Die Presse.
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Das Buch der Woche, Freitag, 30. Jänner 2009, 16:55 Uhr
Ex libris, Sonntag, 1. Februar 2009, 18:15 Uhr
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Buch-Tipp
Wilhelm Genazino, "Das Glück in glücksfernen Zeiten", Hanser
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Hanser - Das Glück in gkücksfernen Zeiten