Kinder sind ein Paradoxon

My Incognito Is Exploded

Auf der Suche nach dem ersten Satz stößt man oft auf Unerwartetes. Dann heult man, obwohl es um was ganz anderes geht. Zum Beispiel darum, dass der Sohn erwachsen wird und, dass man offene Rechnung hat.

Es ist später Abend, draußen schon dunkel und die Nachbarn streiten. Der Straßenlärm bricht sich an der Stille im Zimmer. Obwohl das Fenster offen ist, bleibt er draußen, der Lärm. Ich sitze seit einer Viertelstunde vor dem leeren Word-Dokument und überlege den ersten Satz. Gleichzeitig steigt etwas hoch in mir und sammelt sich im Hals, ein Gewirr an Gefühlen, ein paar rührselige Tränen sind wohl auch dabei, und wenn Ihnen das zuviel ist, müssen Sie hier aufhören. Ich fürchte, es wird noch schlimmer.

Der erste Satz. Der wollte nicht kommen. Besser, zumindest nicht alleine, nur in dicken Bündeln, mit anderen Sätzen und Wortfetzen und -hülsen. Also schloss ich die Augen. Ließ die Nachbarn streiten. Stand blind auf, tastete mich blind durchs Zimmer, zum Bücherregal, zog mir blind ein Buch heraus, tastete mich zurück, setzte mich, schlug das Buch auf (noch immer blind) und steckte meine Nase zwischen die Seiten. Guter alter Taschenbuchgeruch. Ich sah nach, was ich aufgeschlagen hatte. Und heulte.

Das ist kein Orakel. Das war nur eine Schwachsinnsaktion. Ich wollte einen ersten Satz. Aber so einen. Dankeschön. Ich hab ihn als Titel verwendet: "My incognito is exploded." Aus Mark Twains "Life on the Mississippi". Ganz in echt und ohne Scheiß. Ich heulte, weil der Mississippi und ich eine Rechnung offen haben. Im April 2003 hab ich ihm versprochen (in Memphis, am Ufer stehend), ich käme wieder, wenn mein Junge groß ist, und dann machen wir was zusammen.

Und jetzt genau dieses Buch genau zu diesem Zeitpunkt. Wenn das kein Grund zum Heulen ist. Weil, mein Sohn wird 18. Am Samstag. Ich werde ganz Wien drücken und meine Liebe zu dem Kerl in die Weinberge tätowieren, in Ermangelung von Alternativen. Denn Seine Hochwohlgeboren belieben in Griechenland zu weilen, um dort mit Freunden seinen Geburtstag zu feiern. Ohne Handy. Ohne mir zu sagen, wo er genau ist. Irgendwo in Kreta. Er ist schon fast zwei Wochen weg. Weswegen es auch so leer und still ist in der Wohnung.

Wir sind nämlich eine alleinerziehende Familie, wir zwei, seit gut dreizehn Jahren. Wobei, ganz allein. Stimmt auch wieder nicht. Meine Eltern haben mitgepfuscht. Mein Vater hat ihm solange die Würstl kleingeschnitten, bis ich beschlossen hab: Wir ziehen außer ständiger Reichweite. Essen nach Wunsch gibt's nur in den Ferien. Damals sagte ich zu meinem Sohn, der grad zehn geworden war: Nach der Hauptschule gehen wir nach Wien. Und mein Sohn sagte: Machen wir das doch gleich. Das taten wir dann auch.

So war das. Da ist nix Romantisches. Auch kein cooles Mutter-Sohn-Ding. Das waren zum Teil beinharte Zeiten, tausend Kämpfe. Ich hab so viele Fehler gemacht, wie man nur machen kann. Für ein paar davon werde ich mich bis an mein Lebensende schuldig fühlen. Ich wollte ja nie Mutter sein, weil ich ahnte, wie schwer das ist. Aber als ich vor knapp 19 Jahren heulend dem Frauenarzt dabei zusah, wie er mit der Ultraschall-Sonde kaltes Gel auf meinem noch flachen Bauch verteilte, hörte ich schlagartig auf zu heulen, als er mir am Bildschirm dieses fette, kugelrunde Ei zeigte. Sie sind schwanger. Das war ok.

Weil. Deswegen. Mein Sohn meinte manchmal, dass ich ohne ihn vielleicht studieren hätte können. Er meint manchmal, er wäre eine Bürde für mich gewesen. Natürlich war er das. Aber in Wahrheit war er lange Zeit die einzige Konstante in dieser völlig verrückten, unbegreifbaren Welt. In Wahrheit war er die Erdung, ohne die ich, die ständig am Abdriften war, tatsächlich verlorengegangen wäre. Gelegenheiten hätte es genug gegeben. Er ist tatsächlich und ungeteilt das Beste, was mir je passieren konnte.

Mein Sohn ist einer, der einen zum Lächeln bringt, nur indem man von ihm redet. Ob das der Besitzer der Pizzeria unten im Haus ist, oder die Hausmeisterin, oder Freunde, oder sonst wer. Sie richten sich auf, fangen an zu lächeln und fragen nach ihm, und in der Frage steckt soviel Zuneigung. Wissen Sie, das kann einen ziemlich glücklich machen.

Und ein bisserl rührselig. Denn: "My incognito is exploded", das passt wie die Faust aufs Auge. Kinder sind ein Paradoxon. Je größer sie werden, desto schwerer kann man sich hinter ihnen verstecken. Muttersein ist ein Inkognito, hinter dem sich der Rest der Frau ganz gut verbergen lässt. Dass das nicht mehr passt, war mir schon länger klar. Mein Inkognito ist "exploded". Da nützt das ganze Klammern nix. Das tut schon ein wenig weh. Andererseits: Jetzt wird’s wohl Zeit, an den Mississippi zu denken.

Jetzt hör ich auf, bevor ich zur Frau Swoboda von Ö1 werde.

(Alles Gute, mein Schöner! Ich bemüh mich, versprochen.)