Wie der Mensch zum Monster wurde
Opfer, Täter, Monster
Lange trug das Böse Hufe und Hörner und kam aus einer anderen Dimension. Langsam kroch es aus dunklen Wäldern, schlich wie ein Schatten die Stufen hinauf in die Schlafzimmer. Heute sind alle Menschen potenzielle Monster und die Monster sind Menschen.
8. April 2017, 21:58
Der Morgen graut; die Pferde schaudern; der letzte Tag bricht an. Im Kerker wartet die Geliebte auf den "Blutstuhl"; doch der, der kommt, ist nicht der Henker, sondern der Freund. Der Teufel erscheint vor der Zelle und drängt den Geliebten zur Flucht. Sie jedoch bleibt zurück: "Heinrich! Mir graut's vor dir!"
In der Kerkerszene von Goethes "Faust I", der wohl berühmtesten Verwendung des Wortes "grauen", kommt all das zum Ausdruck, was diese Empfindung kennzeichnet: Angst, Schrecken und Ekel, die drei Gefühle, die auch "Horror" erzeugen will.
Von lustvoller Übertreibung zu nacktem Grauen
Die antiken Monster und Schreckensgestalten entsprangen dem Reich der Götter und der Fantasie. Die Hexe Erichtho zum Beispiel, eine Erfindung des römischen Dichters Lucan, die später in Dantes "Göttlicher Komödie" und in Goethes "Faust II" auftrat und eine blutige Spur der Verwüstung hinterließ. Was Lucan satirisch-ironisch überzeichnet haben soll, nahm eine spätere Zeit vielleicht für bare Münze.
Im Mittelalter gab der Teufel Anlass zu schierer Panik, und das auch im wirklichen Leben, nicht nur in Kunst und Literatur. Die Menschen fürchteten höllische Folterqualen als Strafe für ein gottloses Leben. Das Böse trug Hörner, Hufe und einen Schwanz und wohnte in der Hölle. Und nur dort. Dann zog es aus, die Menschen das Fürchten zu lehren.
Wie Menschen Dämonen wurden
Im Laufe des Mittelalters verließen die Dämonen die Hölle und eroberten die Erde. Zunächst wurden sie noch verbannt und ausgetrieben, doch gegen Ende dieser Epoche half nur noch Verbrennen. Die Bedrohung lauerte ab nun in Nachbars Haus und Garten, denn die dämonischen Eigenschaften wurden Menschen zugeschrieben.
Die Hölle in der Welt, die Welt als Hölle
Ab dem Ende des 18. Jahrhunderts war der Ort des Horrors endgültig die reale Welt und nicht mehr die Hölle. Das Böse kam aus fernen Ländern, entlegenen Schlössern und düsteren Labors. Es herrschte dort, wo Raum für Spekulationen blieb. Das 19. Jahrhundert kombinierte die Vorstellungen vom Mittelalter mit den Ängsten der Zeit; erstmals entstanden Gattungsformen des Horrors.
Als Antidot zur Aufklärung, die alles beleuchten wollte, entwickelten sich die englische Gothic Novel und der deutsche Schauerroman - so lautet eine bekannte These zur Entstehung des Genres "Horror". Der Mensch schuf sich seine Monster selbst, wie Mary Shelleys "Frankenstein".
Die Bestie Mensch als Monster von heute
Im 20. Jahrhundert wurden die fantastischen von den menschlichen Monstern verdrängt. Immer mehr Horror-Werke kamen ohne grauenerregende Kreaturen aus einer anderen Welt aus und erklärten Serienmörder oder psychisch kranke Verbrecher zu ihren (un)heimlichen Protagonisten. In aktuellen Horrorfilmen sind nicht nur Menschen die Monster, sondern Opfer auch Täter und Täter auch Opfer.
Die Lust am Schauen des Schauderhaften, der Grusel des Monströsen trieb die Menschen im Mittelalter zu öffentlichen Hinrichtungen, Hexenverbrennungen und in die so genannten "Freak Shows" (wandernde Bühnen- und Zirkusgruppen).
Der Mensch von heute braucht nur einen Knopf zu drücken. Täglich zeigen Fernsehserien und -shows sowie Berichte in Zeitungen die Monster von heute: zum Beispiel Menschen vor, während und nach einer Schönheitsoperation oder Menschen, die grauenhafte Taten verübten. Vom "Horror-Haus" und dem "Horror-Vater" ist zu lesen; Fotos illustrieren die Schrecken der Kriege, der Unfälle, Katastrophen und Krankheiten.
Hör-Tipp
Radiokollleg, Montag, 27. Oktober bis Donnerstag, 30. Oktober 2008, 9:30 Uhr