Vorurteile überall
Die Lügen des Alters
Lüge bedeutet absichtliche Unwahrheit zum Zweck der Täuschung. Und bei all dem, was einem so die Alten, die Werbung, die Medien, die Politik und man sich selbst über die Vorteile des Alters einzureden versuchen, ist Vorsicht angebracht.
8. April 2017, 21:58
Wenn über das Alter gelogen wird, sind die unterschiedlichsten Motive im Spiel, aber alle machen mit. Vor allem die Politik: Das Thema Alter ist komplex, nicht leicht zu vermitteln, mit Vorurteilen behaftet und vor allem, kann man nicht in absehbaren Zeiträumen - sprich: Legislaturperioden - zu befriedigenden Ergebnissen kommen. Zu tief greifenden und langfristigen Reformen fehlt der Mut, der fehlende Mut wird als "politischer Wille" schön gelogen.
Lüge 1: "Das" Alter
Schon über "das Alter" zu reden, ist schlicht falsch. Das Alter gibt es nicht, es gibt unendlich viele Alter, so viele, wie es Menschen gibt. Die Unterschiedlichkeit von Personen wird im Lauf des Lebens immer größer, was jeder beobachten kann und die Wissenschaft bestätigt.
Der Gerontologe Paul Baltes leitete in den 1990er Jahren die Berliner Altersstudie, die mit positiven und negativen Vorurteilen aufräumte. "Auf der einen Seite kommt die Vielfalt wahrscheinlich dadurch zu Stande, dass es kein genetisches Programm für das Altwerden gibt. In der Evolution hat sich die Genetik mit dem Alter nicht sehr beschäftigt, sie war vor allem darauf orientiert, die Fähigkeit, ein Elternteil zu werden, in den Vordergrund zu stellen", so Baltes. Das biologische Programm des Alters sei daher ein Programm des Zufalls und des Chaos.
Lüge 2: Pension ist ein langer Urlaub
Laut einer österreichischen Umfrage machen sich nicht einmal die 60-Jährigen Gedanken über die nächsten Jahre. Vage meint man, alles, was während der Berufstätigkeit aus Zeitmangel zu kurz gekommen ist, würde man in der Pension tun. Reisen steht an erster Stelle, wenn man sich's leisten kann.
"Wenn es unzählige Industriezweige und Berufe gibt, die vom 'Verfall' im Alter profitieren, so gibt es inzwischen eine boomende Branche, die aus dem "Alter als Abenteuer" Gewinn schlägt: die Reisebürobranche", schreibt die Sozialwissenschaftlerin Betty Friedan. Die Autorin des revolutionierenden Buches "Der Weiblichkeitswahn" von 1963 hat 30 Jahre später das Buch "Fountain of Age" herausgebracht - "Altersbrunnen" als Gegenstück zu "Jungbrunnen". Friedan hat darin fundiert mit zahlreichen Alterslügen aufgeräumt: Zum Beispiel hat sie anhand von vielen Beispielen und Studien gezeigt, dass zwar viele Ältere oder auch hoch Betagte objektiv bei schlechter Gesundheit sind, dass sie sich dennoch sehr gut fühlen, befriedigt durch interessante Tätigkeiten und zwischenmenschliche Beziehungen.
Lüge 3: Ewige Gesundheit und Fitness
"Lauf dem Herzinfarkt davon", lautete der Slogan von James Fixx. Er prägte Ende der 1960er Jahre den Begriff Jogging. "Das komplette Buch vom Laufen" war weltweit ein Bestseller. Fixx starb mit 52 beim Joggen auf einer einsamen Landstraße. Der Vordenker der deutschen Fitnesswelle, der Arzt, Radrennfahrer und Leichtathlet Herbert Reindell, erfand den Begriff "Sportherz", er hatte ein solches, fiel vom Rennrad, bekam einen Herzschrittmacher und starb relativ jung, wie auch sein Kollege Richard Rost. Guru Bhagwan predigte in Poona seinen Jüngern aus dem Westen, dass sie bei bhagwanesker Lebensweise 100 oder gar 150 Jahre alt werden könnten. Er starb mit 58 an Übergewicht, Asthma und Herzschwäche.
Lüge 4: Anti-Aging
Schon die Bezeichnung ist Unsinn: Man wird von Geburt an älter und dieser Vorgang ist auch nicht zu stoppen. Mediziner erklären das Altwerden zur behandelbaren Krankheit - und machen damit jeden über 30 zum Patienten, der Mensch wird zum Ersatzteillager, selbst normale Zustände sind behandelbar. Wer einmal mit irgendeiner der Behandlungen, Operationen etc. anfängt, scheint nicht mehr aufhören zu können. Wahrscheinlich ist es ist die Zuwendung, die hier verkauft und gekauft wird. Endlich ist jemand nur für mich da: Masseur, Ernährungsberaterin, Trainer, Kosmetikerin, Schönheitschirurg.
Lüge 5: Altern ohne Verluste
Auch das ist eine Lüge. Gedächtnis wie Schnelligkeit lassen, ebenso wie die körperlichen Fähigkeiten, nach. Der Gerontologe Paul Baltes, bietet Ausgleich durch weitgehend ungenutzte Potenziale des Alters: "pragmatische Intelligenz" und "weisheitsbezogenes Wissen" müssten erkannt, genutzt und gepflegt werden, um der Jungend etwas entgegensetzen zu können. Baltes hat diese Fähigkeiten auf eine Formel gebracht: SOK. Selektieren, optimieren und kompensieren.
Lüge 6: Glückliches Alter durch Besitz
Die boomende Glücksforschung hält dagegen - was schon Erich Fromm in "Sein und Haben" vor 30 Jahren beschreiben hat: Besitz macht nur kurzfristig glücklich. Lebenszufriedenheit entsteht, wenn zu den seltenen Glücksmomenten befriedigende Tätigkeiten, interessante Erlebnisse und gute Beziehungen kommen. Daraus die Formel abzuleiten "Arm, aber glücklich" wäre zynisch. Aber jenseits der Deckung der Grundbedürfnisse steigt die Lebenszufriedenheit nicht mit dem Kontostand, betont auch Paul Baltes: Man wisse, dass alle Menschen, egal wie viel sie besitzen, immer um 10 bis 15 Prozent mehr Geld wollen, als sie haben.
Lüge 7: So früh wie möglich in Pension
Wahr ist vielmehr, die Menschen wollen keinen gesetzlich festgelegten Zeitpunkt, an dem sie aus dem Arbeitsleben ausscheiden müssen. Das zeigte die größte globale Studie aller Zeiten, in 20 Ländern durchgeführt, 20.000 repräsentativ ausgewählte Personen wurden befragt. 72 bis 80 Prozent von ihnen lehnen ein fixes Rentenalter und Zwangspensionierung ab. Bernd Marin schreibt:
Feste Altersgrenzen, jenseits derer man nicht weiterarbeiten darf, werden ebenso als unzulässige Bevormundung und Beeinträchtigung aktiven Lebens gesehen, wie der Zwang, aus materieller Not weiterarbeiten zu müssen.
Das ideale Alter ist also nicht der Ruhestand, sondern die selbst gewählte Mischung aus Arbeit und Freizeit.
Lüge 8: Länger arbeiten als Lösung
Die Forderung nach Hinaufsetzen des Pensionsalters ist daher auch falsch. Die Arbeitswelt - in Zeiten einer Gesellschaft mit einem geringen Anteil an Alten entstanden - müsste umgestaltet werden, damit auch betagte Menschen eine ihnen und ihren Fähigkeiten gemäße Tätigkeit finden.
"Selbstgewählt" und "selbstbestimmt" sind für Paul Baltes die Zauberworte für die Gestaltung der späten Jahre. Damit müsse man jung beginnen, wenn einen das Alter am allerwenigsten interessiert, schreibt Baltes.
Lüge 9: Der Tod ist ein Tabu
Auch das ist falsch. Der Tod selbst sei, meint Baltes, bei vielen Menschen kein Tabu. "Dies ist eher ein Tabu des jungen Erwachsenenalters", so Baltes weiter, "aber wenn sich ältere Menschen nicht Gedanken über ihren Tod machen, das wäre sehr auffällig und es entspricht nicht meiner Erfahrung."
Übrigens: Alles, was heute über das Alter bekannt ist, weiß man seit mindestens 25 Jahren, Gesellschaft und Politik haben nur keine Konsequenzen daraus gezogen.
Hör-Tipp
Diagonal, Samstag, 21. Juli 2007, 17:05 Uhr
Mehr dazu in oe1.ORF.at