Klug vom Lesen?
Britannica & ich
A. J. Jacobs hat die rund 33.000 Seiten umfassende Encyclopaedia Britannica von A bis Z komplett durchgelesen. Die Erfahrungen seines außergewöhnlichen Crashkurses in Sachen Allgemeinwissen hat der New Yorker Journalist in Buchform festgehalten.
8. April 2017, 21:58
33.000 Seiten, 65.000 Artikel, 9.500 Mitarbeiter, 24.000 Abbildungen. 32 jeweils knapp zwei Kilo schwere Bände, Dünndruck, Großformat. Alles in allem: 44 Millionen Wörter. Um Zeit zu gewinnen, türme ich die Bücher auf dem Fußboden zu einem großen Stapel. Er reicht mir bis zur Brust. Ein Meter 25! Sozusagen ein Danny de Vito des Wissens.
Die Encyclopaedia Britannica gilt nach wie vor als die bedeutendste englischsprachige Enzyklopädie. 1768 im Edinburgh gegründet, ist sie das älteste noch erscheinende Nachschlagewerk und - abgesehen vom in Sachen Zuverlässigkeit nicht vergleichbaren Internet - die wohl ergiebigste Informationsquelle der Welt.
Bücher sind die besten Freunde
Was sind die Beweggründe, dieses massive Konvolut völlig unabhängig von persönlichen Vorlieben und Interessensgebieten vom ersten bis zu letzten Buchstaben zu verschlingen? A. J. Jacobs' Gründe liegen gut 30 Jahre zurück. Er verbrachte als kleiner Bub mehr Zeit mit Büchern als mit Freunden. Er war felsenfest davon überzeugt, das klügste Kind der Welt zu sein.
Nach seiner Schul- und College-Ausbildung setzte jedoch als Autor bei "Entertainment Weekly" ein unaufhaltsamer intellektueller Niedergang ein. Unvermutete Niederlagen bei Scrabble und Trivial Pursuit, sowie die permanente Besserwisserei des verhassten Schwagers gaben den Ausschlag zum radikalen Heimstudium.
Wissen vs. Intelligenz
Von "A capella", über "Aachen" und "Aaron" führt der lehrreiche, aber dennoch oft mühsame Pfad über insgesamt 15 Monate bis zum allerletzten Wort "Zywiec", einer polnischen Kleinstadt, die vor allem für ihr wohlschmeckendes Bier bekannt ist. Seine Frau denkt, sein Vorhaben sei reine Zeitverschwendung, seine Freunde halten ihn schlicht für verrückt und wenn er seinen Arbeitskollegen erklärt, dass er der klügste Mensch der Welt werden möchte, erntet er nur Kopfschütteln, eine Grimasse mit verdrehten Augen oder Fragen wie diese:
"Wie definierst du Intelligenz? Als die Menge von Informationen, über die du verfügst?"
"Ja."
"Was, bitte, soll daran intelligent sein?"
"Keine Ahnung. Aber ich bin ja auch noch lang nicht bei I."
Merken und Vergessen
Das Lesen der Encyklopaedia Britannica bringt nicht nur einen steten Zuwachs an Wissen, sondern auch neue Erfahrungen mit dem eigenen Umgang von gespeicherten Informationen und Daten. Natürlich behält man mehr, als man wieder vergisst, aber mit dem Zuwachs an Wissen vergisst man auch mehr. Paradox, aber so hat es auch der deutsche Psychologe Hermann Ebbinghaus in seiner gleichnamigen Kurve des Vergessens skizziert. Nachzulesen unter "E" wie Ebbinghaus.
Das Ärgerliche daran ist, dass man es schwer schafft, zu steuern, welche Daten man sich merkt und welche nicht. So fällt dem Autor etwa auf Anfrage herzlich wenig zu Samuel Beckett ein, er könnte aber jederzeit mit detailreichem Wissen über Kannibalismus punkten oder damit prahlen, dass sowohl der Vater von Winston Churchill als auch jener von Al Capone an Syphilis litten. Gerade vermeintlich nutzloses Wissen scheint sich immer wieder auf unerklärliche Weise im Gehirn festzusetzen. Es gibt aber durchaus auch Informationen, die das bisherige Denken völlig auf den Kopf stellen.
Ja zum Abenteuer
Habsucht, Halifax, Hämorrhoiden; Montaigne, MTV, Muzak; Taliban, Tartaren, Termiten; wenn man sich durch das Wissen der Welt gräbt, darf man sich nicht wundern, worauf man stößt. A. J. Jacobs hat seinen Erfahrungsbericht ebenso wie das Untersuchungsobjekt streng nach Stichworten alphabetisch gereiht. Man kann ihn also entweder als Roman einer intellektuellen Abenteuerreise lesen, als auch als subjektives Highlight-Lexikon. Jedenfalls macht es Spaß, zumeist skurriles Wissen kommentiert von einem leicht paranoiden, aber doch recht sympathischen Wirrkopf nähergebracht zu bekommen.
Falls man je selbst den Gedanken der kompletten Lektüre eines Lexikons gehabt hat, so darf man sich freuen, dass diese Mühsal ein anderer übernommen hat, und man jetzt sowieso nicht mehr als Pionier in die Weltgeschichte eingehen würde. Die Einsichten, die der Autor gewonnen hat, kann man ja trotzdem beherzigen.
Ich weiß, dass ich - trotz Schlafmangels und verpasster "Simpsons"-Folgen - froh bin, die Britannica gelesen zu haben. Ich weiß, dass man sich auf das Schöne und Gute konzentrieren muss, denn sonst ist man verloren. Ich weiß, dass man immer ja zu Abenteuern sagen soll, weil man sonst ein todlangweiliges Leben führt. Ich weiß, dass Wissen und Intelligenz nicht unbedingt dasselbe sind - aber Nachbarn sind sie auf jeden Fall.
Hör-Tipp
Kontext, jeden Freitag, 9:05 Uhr
Buch-Tipp
A. J. Jacobs, "Britannica & ich. Von einem der auszog, der klügste Mensch der Welt zu werden", aus dem Amerikanischen übersetzt von Thomas Mohr, List Verlag, ISBN 978-3471795132