Der Beginn der modernen Literatur?
1857
Das Buch "1857" offenbart ein originelles Konzept: Wolfgang Matz stellt Flaubert, Baudelaire und Stifter als Begründer der modernen Literatur einander gegenüber. Trotz einiger Kritikpunkte verführt das Buch dazu, die drei Autoren (wieder) zu lesen.
8. April 2017, 21:58
In der Literatur tat sich 1857 Entscheidendes. Genau vor 150 Jahren nämlich erschienen gleichzeitig drei Werke, die längst als Meisterwerke der Weltliteratur gelten: Gustave Flauberts "Madame Bovary", Charles Baudelaires "Les Fleurs du Mal" und Adalbert Stifters "Der Nachsommer". 1857 sei "ein emblematisches Datum für etwas, was alles andere ist als ein Zufall", meint der Autor und Literaturwissenschaftler Wolfgang Matz. "1857 ist das Jahr der Moderne, das Jahr der modernen Literatur."
Stifter als Joker
Charles Baudelaire versuchte, die Zeit, unter der er litt, deren Fortschrittsoptimismus er hasste, in Gedichten von düsterer Schönheit zu fassen. "Die Blumen des Bösen" sind Gedichte über die Großstadt, über das Böse und das Nichts, über die Spiritualität und den Glauben an die eigene Verdammnis: "Ich bin der Vampir meines eigenen Herzens".
Gustave Flaubert wollte den Misserfolg seines vorangegangenen Romans wiedergutmachen und griff zu einem trivialen Genre. "Madame Bovary" ist im Grunde eine banale Ehebruchsgeschichte, vom Autor in eine akribische realistische Prosa gekleidet, die zugleich eine ernüchternde Diagnose der Zeit enthält.
Und Adalbert Stifter? "Stifter ist natürlich der Joker in dieser Konstellation", meint Matz im Gespräch. "Kein Mensch wundert sich, wenn man Flaubert und Baudelaire nebeneinander stellt. Nur wenn man mit Stifter ankommt, dann heißt es, wieso denn der? Stifter hat einen völlig unvergleichlichen, einzelgängerischen Roman geschrieben, er erzählt eine Geschichte, die es eigentlich nur in seinem Buch gibt."
Verbindende Grundstimmung
Flaubert und Baudelaire machten Schlagzeilen, ihre Bücher sorgten für Skandale, beschäftigten die Gerichte, spalteten die Kritik. Stifters Roman dagegen blieb so gut wie unbeachtet. Flaubert und Baudelaire lasen sich gegenseitig, sie korrespondierten und sie trafen sich. Stifter kannten sie nicht, und Stifter kannte sie nicht. Er hatte kein Interesse an französischer Literatur, die ihm als sittenlos galt. Und dennoch verbindet die drei - außer dem Widerstand gegen ihre Zeit - ihre Haltung zum Leben, eine auch Literatur gewordene Grundstimmung, die man als Ennui bezeichnet, als Langeweile oder Melancholie.
Wolfgang Matz geht es nicht nur um drei Werke und ihre Interpretation, um den, längst auch andernorts erbrachten, Ausweis ihrer Modernität, es geht ihm nicht minder "um die Möglichkeit von künstlerischer Produktivität überhaupt", um die Frage, wie der Autor sich und seine Rolle findet und erfindet in der bürgerlichen Gesellschaft, um "Stand und Würde des Schriftstellers" (wie ein Stifter-Aufsatz lautet), um das, was das "Problem der ästhetischen Existenz" genannt wird.
Begeisterter Leser Nietzsche
Wie kommt ein Schriftsteller zu seinem Buch, was bringt ihn dazu, so und nicht anders zu schreiben, ist die eine Frage, die Wolfgang Matz beschäftigt, wie kommt ein Autor zu seinem Leser, die andere. Für sein Dreigestirn findet er keinen zeitgenössischen Leser, der sowohl den deutschen, als auch die französischen Texte gekannt hätte - mit einer, allerdings prominenten, Ausnahme: Friedrich Nietzsche. Er war der einzige, der alle drei Bücher nicht nur las, sondern auch verehrte.
Stifters "Nachsommer" sei ein Buch, "das es verdiene, wieder und wieder gelesen zu werden", lobte Nietzsche in "Menschliches, Allzumenschliches" und nannte den Roman "das einzige deutsche Buch nach Goethe, das für mich Zauber hat". Flaubert wiederum habe "das klingende und bunte Französisch auf die Höhe gebracht", während Baudelaire gerühmt wird als "der Mensch eines vielleicht verdorbenen, aber sehr bestimmten und scharfen, seiner selbst gewissen Geschmacks".
Interessant trotz Kritikpunkten
Ohne Zweifel, "1857" offenbart ein originelles Konzept; wenn es aber denn kein Buch nur für die Zunft, sondern ein populäres Sachbuch sein will, hätte die 400-Seiten-Studie ruhig zügiger zur Sache kommen und mehr einer eigenen Sprache vertrauen dürfen. Ob man Leben und Werk in eins setzen soll, ob 1857 die Geburtsstunde nicht nur der modernen Literatur, sondern auch des modernen Literaten ist, wie Matz suggeriert, auch das ist mit diesem Buch nicht endgültig geklärt.
All das sind keine wirklich gewichtigen Einwände gegen ein Werk, das profunde Kennerschaft verrät, akribische Lektüre und Liebe zum Gegenstand; das die hohe Kunst der Interpretation demonstriert - und nicht zuletzt dazu verführt, die große Literatur von vor 150 Jahren zu lesen oder wiederzulesen: Flaubert, Baudelaire und Stifter.
Hör-Tipp
Ex libris, Sonntag, 5. August 2007, 18:15 Uhr
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Buch-Tipp
Wolfgang Matz, "1857. Flaubert, Baudelaire, Stifter", S. Fischer Verlag, ISBN 978-3100489203