Der Streit um die Geschichtsschreibung
Wem gehört Indien?
Am 15. August 2007 begeht Indien den 60. Jahrestag seiner Unabhängigkeit. In seiner Verfassung ist Indien als eine "säkulare, pluralistische, demokratische Republik" definiert. Das Wesen der indischen Nation ist aber nach wie vor umstritten.
8. April 2017, 21:58
Indien als Zivilisation ist Jahrtausende alt, als unabhängiger Staat und Nation besteht Indien jedoch erst seit 1947. Am 15. August 2007 begeht Indien den 60. Jahrestag seiner Unabhängigkeit. Wie beim goldenen Jubiläum vor zehn Jahren regiert auch diesmal die Kongresspartei das Land, das sie 1947 in die Freiheit von den britischen Kolonialherren führte.
Säkularisten vs. Hindunationalisten
Unter dem ersten Premierminister Jawaharlal Nehru wurde Indien in der Verfassung als eine säkulare, pluralistische demokratische Republik definiert, in der alle Menschen die gleichen Rechte genießen und die Minderheiten geschützt werden. An diesem Grundsatz änderte sich auch nichts, als sich Indien Anfang der 1990er Jahre endgültig von Nehrus Weg der sozialistischen Planwirtschaft verabschiedete und eine ökonomische Liberalisierung einleitete.
Andere Vorstellungen von der indischen Nation als die in der Verfassung verankerte hat es jedoch immer gegeben. In dem mehr als ein halbes Jahrhundert dauernden Freiheitskampf gegen die Briten wurden viele unterschiedliche Ideen von Indien entwickelt. Die zwei zentralen und konträren Vorstellungen sind die der Säkularisten, die Indien als ein Land der Vielfalt verstehen, und die der Hindunationalisten, die Indien als Hindu-Nation konstruieren, in der den Minderheiten ein untergeordneter Status zukommen sollte. Den Hindunationalisten geht es darum, eine ungebrochene Linie der Hindu-Kultur bis zu den ältesten bekannten Spuren der Zivilisation im Subkontinent zu etablieren.
Umgeschriebene Geschichte
Der ideologische Machtkampf um Indien erreichte kurz nach dem 50-Jahr-Jubiläum der Unabhängigkeit unter der Regierung der hindunationalistischen Indischen Volkspartei (BJP) von 1998 bis 2004 seinen Höhepunkt. Mit Umbesetzungen in führenden wissenschaftlichen Institutionen, Schulbuchumschreibungen, dem Verbot nicht genehmer Publikationen und massiven Drohungen gegen missliebe Historiker versuchte die BJP ihre Version der Geschichte zu verankern. Die BJP wurde 2004 wieder abgewählt, weil sie sich weder für den Säkularismus noch für soziale Gerechtigkeit engagierte. Seither hat sich die Lage beruhigt, doch hinter den Kulissen geht das Ringen weiter.
Zum 60. Jahrestag der Unabhängigkeit erteilt Ramachandra Guha Hindunationalisten mit ihren engen Vorstellungen von Kulturen und Nationen eine Absage: "Indien ist eine Salatschüssel-Nation, keine Schmelztiegel-Nation. (...) Als Nation ist Indien einfach sui generis. Sie steht für sich, abseits aller verfügbaren politischen Modelle."
Buch-Tipps
Clemens Six, "Hindi - Hindu- Hindustan. Politik und Religion im modernen Indien", Mandelbaum-Verlag, ISBN 9783854762126
Shashi Tharoor, "Eine kleine Geschichte Indiens", Suhrkamp Verlag, ISBN 978 3518456781
Shashi Tharoor, "Die Erfindung Indiens. Das Leben des Pandit Nehru", Insel Verlag, ISBN 9783458173038