Die Kunst, um 5:30 Uhr aufzustehen
Schule der Achtsamkeit
Zen ist friedfertig und anti-messianisch, Stress reduzierend und uneingeschränkt auf das Hier und Jetzt orientiert - kurzum: Die ideale Religion postmoderner Individualisten. Ein Kernstück der mystischen Erfahrung ist das Zazen, die Sitzmeditation.
8. April 2017, 21:58
Seit Arthur Schopenhauer als erster europäischer Denker die Vorzüge fernöstlicher Weltwahrnehmung gewürdigt hat, haben sich zahlreiche Westler auf einen Flirt mit dem Buddhismus eingelassen - von Claude Lévi-Strauss bis Henry Miller und Hermann Hesse.
Boom seit den 1970er Jahren
Erst recht, so hat man den Eindruck, erleben Buddhas Lehren seit den 1970er und 1980er Jahren einen unerhörten Boom in Europa und den USA, vor allem der Zen-Buddhismus. Das mag mit dem grandiosen Scheitern der 68er und ihrer utopistischen Illusionen zu tun haben, das hängt wohl auch mit der Kraftlosigkeit des Christentums zusammen, vor allem aber hat es mit den Vorzügen des Zen selbst zu tun.
Die Hamburger Wochenzeitung "Die Zeit" pries den Zen-Buddhismus in einem Dossier im März 2007 als "friedfertig und undogmatisch, Stress reduzierend und persönlichkeitsstabilisierend", kurzum, so "Die Zeit", Zen sei die ideale Religion postmoderner Individualisten. Da ist was dran.
Zazen im Dojo
Ich besuche ein Dojo (Meditationsraum) in der Kaiserstraße in Wien-Neubau. Die Praktizierenden, die sich hier allmorgendlich ab 6:15 Uhr zur täglichen Sitzmeditation treffen, zum Zazen, wirken ganz und gar nicht wie Esoteriker, im Gegenteil: Alle wirken wie besonnene Mittelschicht-Intellektuelle, alle haben sie zivile Berufe, alle stehen mit beiden Beinen fest auf dem Boden der Wirklichkeit.
"Jemand, der Zazen praktiziert, unterscheidet sich in nichts von anderen Menschen", erklärt der Künstler und Handelsvertreter Christian Helbock, der zu den Mitbegründern des Wiener Dojos zählt: "Allenfalls ist man ruhiger. Man geht achtsamer mit sich und anderen um."
Die Wiener Zen-Gruppe beruft sich auf den japanischen Meister Taisen Deshimaru. Der begann in den späten 1960ern damit, die Lehren des Soto-Zen nach Europa zu importieren. 1979 gründete Deshimaru den größten europäischen Zen-Tempel, die "Gendronnière" im Loire-Tal, etwa 200 Kilometer südlich von Paris. Auch die Praktizierenden aus Wien fahren immer wieder dorthin, um an "Sesshins" teilzunehmen, mehrtägigen Übungsperioden intensiver Praxis.
Eins sein mit dem Kosmos
Im Zentrum der Zen-Praxis steht das "Sitzen in Stille". Zwei Mal vierzig Minuten nimmt der Praktizierende die Lotos-Position ein, die traditionelle "Haltung des Buddha": linker Fuß auf rechtem Oberschenkel, rechter Fuß auf linkem Oberschenkel. Man schaut auf die Wand vor sich, konzentriert sich auf seinen Atem, verfolgt das Kommen und Gehen der Gedanken, versucht sich zu öffnen für... ja, wofür eigentlich?
Dem Zen-Buddhismus geht es darum, das Gefühl der Trennung aufzuheben. Während des Sitzens soll der Praktizierende eine Art "Unio mystica" erleben, ein Gefühl des Einsseins mit dem Kosmos. "Wenn ihr denkt, 'Ich atme', ist dieses 'Ich' ein Zusatz", wusste der amerikanische Zen-Meister Shunryu Suzuki. "Es gibt niemanden, der 'Ich' sagen könnte. Was wir 'Ich' nennen, ist nur eine Schwingtür, die sich bewegt, wenn wir einatmen und ausatmen."
Im Hier und Jetzt leben
Man kann darüber diskutieren, ob Zen überhaupt als Religion bezeichnet werden darf. Auf metaphysische Spekulationen verzichten die Anhänger des Soto-Zen jedenfalls. Für sie geht es darum, im Hier und Jetzt zu leben. Was andere Religionen "Ewigkeit" nennen mögen, im Zen ist das absolute Gegenwart.
"Was nach dem Tod kommt, weiß niemand", erklärt Michel Bovay, einer der führenden Proponenten des europäischen Zen. "Noch ist keiner von der anderen Seite zurückgekommen, um uns Bericht zu erstatten. Deshalb konzentrieren wir uns im Zen ganz auf das Hier und Jetzt." Was einmal war, kann nicht mehr gelebt werden. Was einmal sein wird, ebenso wenig. Aus diesem Grund ist einzig die Gegenwart von Relevanz. "Die Schwierigkeit besteht darin, zu akzeptieren, dass wir nichts anderes haben als diesen einen Atemzug, den wir gerade nehmen", sagt Christian Helbock.
Nichts Endgültiges
Zen verzichtet auf transzendente Versprechungen jedweder Art. Vielleicht macht es gerade das so attraktiv für europäische Intellektuelle, die gelernt haben, messianischen Botschaften zu misstrauen.
Die Wahrheitssucher aller Zeiten haben darauf gehofft, am Ende ihres Weges etwas Dauerhaftes, Endgültiges, keinem Wechsel Unterworfenes zu finden. Damit kann Zen nicht dienen. Stattdessen wird dem Suchenden der Gedanke angeboten, dass das Leben genau das ist, was es zu sein scheint: ein Sack voller Wechselhaftigkeiten, Mehrdeutigkeiten und Vergänglichkeiten. Das mag entmutigend sein, lohnt aber doch die Mühe. Warum? Weil wir nichts anderes haben.
Hör-Tipp
Hörbilder, Samstag, 5. Juli 2008, 9:05 Uhr
Link
Zen Dojo Wien