Österreich in den Dreißigerjahren

Das Scheitern der Republik

Philosophen, Historiker, Germanisten und Sozialwissenschafter aus vielen Ländern Europas trafen Anfang Juni in Neapel, Salerno und Taurasi aufeinander, um ihre Sicht auf das "Österreich der 1930er Jahre gegenüber Europa" zu vergleichen.

"Österreich war in den Dreißigerjahren ein paradoxer und widersprüchlicher Boden", sagte der neapolitanische Zeitgeschichtler Luigi Parente am Beginn des Kongresses in einem der schönsten Säle der Universität L’Orientale in Neapel. Wien - so lässt sich zugespitzt sagen - war ein Modellversuch für demokratischen Sozialismus, und der Austrofaschismus mit seinem autoritären Ständestaat war ab 1934 ähnlich wie Portugal eine katholische Gegenansage zur kommunistischen Internationale und teilweise zum aufkommenden Nationalsozialismus.

Alle totalitären politischen Experimente sind im Europa des 20. Jahrhunderts gescheitert, auf Österreich bezogen lässt sich feststellen, dass weder die humanitären Werte des Sozialismus noch die des Katholizismus imstande waren, totalitäre Delirien zu verhindern.

Interesse am Österreich der Zwischenkriegszeit

Dass ausgerechnet die Universitäten Neapel, Salerno und auch Ferrara die Initiative zu einem Österreich-Kongress ergriffen haben, liegt am Interesse für den österreichischen Sozialismus der Zwischenkriegszeit und dabei speziell für das "Rote Wien" und dessen geistigen Hintergrund.

Max Adler und Otto Bauer zählten neben Dollfuß zu den meistgenannten Namen in den Tagen des Kongresses. Andererseits gilt das Österreich der Dreißigerjahre in Italien als ein politisch- kulturelles Labor, das nicht unter dem Zeichen eines neu aufkommenden nationalen Patriotismus stand, sondern dem, im Gegenteil, praktisch jeder eigene Nationalismus fehlte: Dies lässt sich für die Veranstalter schon aus dem Diktum Clemenceaus bei den Friedensverhandlungen von St. Germain - "Der Rest ist Österreich" - ableiten und wohl noch stärker aus dem Namen der neuen Republik "Deutsch-Österreich".

Aus verschiedenen Blickwinkeln

Epochale Krisen wurden beim Kongress auch aus wirtschaftlicher Sicht - der Völkerbund als entscheidender Unterstützer der christlich- sozialen monetaristischen Politik - betrachtet. Weiters aus literarischer Sicht anhand von Robert Musil, Jura Soyfer, Hugo von Hofmannsthal oder Ingeborg Bachmann oder im Spiegel des Journalismus der Zwischenkriegszeit "zwischen Aufklärung und Aufdeckung". Die Folgen der Nicht-Bewältigung der vielfältigen Krisen - Nationalismus, Demokratie und Ökonomie - sind bekannt.

Eine Schlussfolgerung für das heutige vielfältige Europa könnte sein, weder von Teilungen noch von Vereintheit zu träumen, sondern zu einem Zusammenleben zu finden, das von akzeptierten Unterschieden und individuellen, aber kommunikativen Kulturen geprägt ist - dass Diversität und Pluralität neben wirtschaftlichen Argumenten als allgemein akzeptable Einigungsfaktoren angesehen werden.

Das "Rote Wien" und die ständestaatliche Diktatur

Werden das "Rote Wien" und dessen Protagonisten gerade in Italien oft in einer Reihe mit Antonio Gramsci, dem Vorläufer des Eurokommunismus, der sich in den 1970er Jahren eindeutig von der sowjetischen Diktatur abgewandt hatte, auf einem sehr ehrenvollen Platz der Geschichte gesehen, so bleibt den Widersachern, den Christlich-Sozialen der 1930er Jahre, vor allem die unrühmliche Rolle, Errichter einer ständestaatlichen Diktatur zu sein.

"Ein Gegenmodell gegen Demokratie, gegen den Parlamentarismus, gegen das sozialistische Modell zur Zeit der Sowjetunion und auch gegen Nationalsozialismus und vielleicht auch - aber das ist sehr kompliziert - gegen den italienischen Faschismus", sagte Paul Pasteur, Historiker an der Universität Rouen. "Katholiken wollten Korporatismus und einen starken Staat, das ist klar seit 1926, das findet man in der Literatur in Österreich, Portugal und Spanien - mit derselben These: Demokratie hat uns in eine Sackgasse geführt.

Ob das Scheitern der kleinen österreichischen Demokratie der Zwischenkriegszeit ein Menetekel für das moderne Europa bleibt? Mit einem Blick auf die Geschichte der Donaumonarchie differenzierte Nikolao Merker zwischen Plurinationalismus oder Übernationalismus, bevor er sagte: "Die Europäische Union muss dieses Thema leben, ausleben und Lösungen dazu finden, oder sie besteht als eine Union auf historisch weite Sicht nicht. Es handelt sich um die gegenseitige Anerkennung des freien Willens."

Hör-Tipp
Dimensionen, Montag, 20. August 2007, 19:05 Uhr