Von wegen modern
Wir sind alle Neandertaler
Warum haben wir Angst vor kleinen, harmlosen Tieren? Warum schwitzen wir, wenn uns Gefahr droht? Der deutsche Mediziner und Wissenschaftsautor Jürgen Brater meint, schlicht und einfach, weil wir im Grunde alle noch immer Steinzeitmenschen sind.
8. April 2017, 21:58
Seit die letzten Neandertaler unseren Planeten verließen, sind gerade einmal zwanzig- bis dreißigtausend Jahre vergangen. Das erscheint viel, ist jedoch aus Sicht der Evolution nur ein Wimpernschlag der Menschheitsgeschichte. Verkürzt man die Entwicklung der Gattung "Homo", deren letztes Glied wir sind, auf einen 24-Stunden-Tag, so hat der Mensch weit über 23 Stunden als Jäger und Sammler verbracht. Erst sechs Minuten vor Mitternacht entwickelte er die Landwirtschaft, und in allerletzter Sekunde wurde Jesus geboren.
Während also unsere Vorfahren Hunderttausende von Jahren Zeit hatten, sich den jeweiligen Umweltbedingungen anzupassen, blieb uns nur äußerst wenig für die Adaption an unser heutiges Leben mit all seinen komplizierten Begleitumständen. Während sich um uns herum während dieses letzten "Wimpernschlages der Menschheitsgeschichte" fast alles radikal geändert hat, sind wir nach wie vor zum größten Teil gebaut wie Steinzeitmenschen.
Wissen dank Kommunikation
Bei seinen Vermutungen und Theorien stützt sich Brater auf aktuelle Untersuchungen von Paläontologen, Psychologen und Biologen und nicht zuletzt auf die immer noch gültigen Erkenntnisse des Verhaltensforschers Konrad Lorenz.
Ein wesentlicher Grund, warum sich die Welt des modernen Menschen so rasend schnell weiterentwickelt, ist sicherlich die Möglichkeit der Kommunikation. Selbst wenn einer unserer Vorfahren eine bedeutende Erfindung gemacht hätte, hätte das außer seinen nahen Verwandten kaum jemand erfahren. Heute verdoppelt sich das Wissen der gesamten Menschheit durch weltweit vernetzte Kommunikation alle fünf bis sieben Jahre. Dennoch glauben erstaunlich viele Menschen nach wie vor an Dinge, die nicht zu beweisen sind. Aberglaube, Horoskope oder Glücksbringer erfreuen sich auch in zivilisierten Kreisen größter Verbreitung und höchster Beliebtheit.
Verzichtbarer Schluckauf
Rein körperlich gibt es ein erstaunlich reichhaltiges Erbe, das wir mitschleppen, obwohl es seine Bedeutung völlig verloren hat. Neben üppiger Körperbehaarung gehören dazu die Weisheitszähne, der Blinddarm und das Steißbein, das früher Teil des Schwanzes war beziehungsweise zu dessen Bewegung diente.
Französische Forscher vermuten, dass der Schluckauf, eine Körperfunktion, auf die man gerne verzichten könnte, ursprünglich Lurchen dazu diente, ihre Lungen vor Wasser zu schützen. Und unser kalter Schauer vor extrem nervigen Geräuschen wie etwa dem berühmt-berüchtigten Kreidequietschen auf einer Schultafel könnte ein evolutionäres Überbleibsel eines Reflexes auf den Warnschrei bestimmter Affen sein. Laboruntersuchungen haben die Ähnlichkeit der Geräusche bestätigt.
Angst vor Spinnen?
Auch was tief in uns sitzende Urängste betrifft, stieß der Autor auf erstaunliche Zusammenhänge. So haben Tests ergeben, dass die ersten Tische, die sich in leeren Restaurants füllen, fast immer jene in Ecken sind, gefolgt von solchen an der Wand. Das Geschehen zu überblicken und keinen potenziellen "Feind" im Rücken zu haben, scheint immer noch instinktiv unsere Platzwahl zu beeinflussen.
In Urzeiten war es sicher notwendig, vor beißenden oder stechenden Insekten, Spinnen oder sonstigem Kleingetier auf der Hut zu sein. Auch wenn diese Gefahren heute in den seltensten Fällen tödlich sind, haben sie sich fest in unserem Erbgut verankert.
Wie anders ist es zu erklären, dass mancher gestandene Mann ohne einen einzigen zusätzlichen Pulsschlag mit 200 Stundenkilometern über die Autobahn rast, beim unvermuteten Auftauchen einer ganz und gar ungefährlichen Kreuzspinne aber vor Angst zu schlottern beginnt? Und dass einem anderen am ganzen Körper der Schweiß ausbricht, wenn man ihn auffordert, eine vollkommen harmlose Blindschleiche in die Hand zu nehmen, während er ohne Skrupel mit einem pfundschweren Silvesterböller hantiert, der ihm schlimmste Verbrennungen zufügen kann?
Quer durch alle Lebensbereiche
Essen und Trinken, Krankheit und Leid, Liebe und Sexualität - Jürgen Brater findet fast in jedem Lebensbereich Verhaltensweisen, die bei näherer Betrachtung tatsächlich stutzig machen und führt auf vergnügliche Art und Weise vor, wie viel Neandertaler in uns steckt. Wenn er allerdings von der Sehnsucht des Menschen nach der Behaglichkeit eines Kaminfeuers schreibt, wird natürlich klar, dass seine Thesen nicht alle auf fundierten wissenschaftlichen Studien beruhen. Schließlich lassen sich viele Mitmenschen durchaus von persönlichem Geschmack leiten und nicht nur von ihrem Erbgut.
Sicher erscheinen einige dieser Vorstellungen und Theorien fragwürdig. Aber das galt schon zu allen Zeiten für wissenschaftliche Hypothesen, von denen sich später etliche als korrekturbedürftig, andere jedoch als Volltreffer erwiesen haben.
Hör-Tipp
Kontext, jeden Freitag, 9:05 Uhr
Buch-Tipp
Jürgen Brater, "Wir sind alle Neandertaler. Warum der Mensch nicht in die Moderne passt", Eichborn Verlag, ISBN 9783821856414