Erzählungen aus Kolyma 1

Durch den Schnee

Warlam Schalamow ist fast synonym mit dem Gulag, wäre da nicht Alexander Solschenizyn. Bekanntlich war der "Archipel" nicht ganz unbeteiligt am Untergang des Sozialismus. Schalamow aber ist der Autor, der den Gulag am wahrhaftigsten beschrieben hat.

Warlam Schalamow, das ist ein Kontinent, fast synonym mit dem Gulag. Wäre da nicht Alexander Solschenizyn, der Schalamow nicht nur die zweifelhafte Ehre attestierte, "viel schlimmere" Lager er- und überlebt zu haben; sondern diesen ursprünglich auch eingeladen hatte, an seinem "Versuch einer künstlerischen Verarbeitung" der 20 Millionen Toten des Stalin-Regimes, dem ARCHIPEL GULAG, mitzuarbeiten. Bekanntlich war der "Archipel" nicht ganz unbeteiligt am Untergang des Sozialismus - Schalamow aber ist DER Autor, der den Gulag am "authentischsten" und wahrhaftigsten beschrieben hat.

1907 im nordrussischen Wologda als Sohn eines orthodoxen Priesters und einer Lehrerin geboren, beginnt Warlam Schalamow 1926 in Moskau ein Jusstudium; erste literarische Versuche im Umfeld der Konstruktivisten Ossip Brik und Sergej Tretjakow werden durch die erste Verhaftung im Jahre 1929 abgebrochen.

Die erste Verhaftung

Der 22-jährige Schlamow hatte als Trotzkist Lenins sogenanntes "Testament" verbreitet, in dem dieser vor Stalin warnte. Insgesamt wird Schalamow ab 1937 - seine ersten Erzählungen werden noch nach seiner Verhaftung veröffentlicht - bis nach Stalins Tod 1953 siebzehn Jahre wegen sog. "antisowjetischer Tätigkeit", "Trotzkismus" usw. in diversen Lagern verbringen: "Wer aus der Hölle zurückkehrt" schreibt Schalamow, "bringt nichts mit".

Mitgebracht hatte er allerdings mehrer Hefte mit Gedichten - die Boris Pasternaks Zustimmung fanden, und er macht sich Ende der 1950er, Anfang der 1960er Jahre an die Verfassung jener "Kolymskij Raskasy", der "Erzählungen aus Kolyma", die seinen internationalen Ruhm begründen sollten. (Ins Englische oder Französsische ist Schalamow nebenbei seit vielen Jahren fast vollständig übersetzt!).

1960 wird er rehabilitiert und in den Schiftstellerverband aufgenommen; als Bestrafung für die Veröffentlichung seiner schließlich an die 1.000 Seiten umfassenden Lagererzählungen in England wird der zuletzt gebrochene und fast blinde Schalamow von der Sowjetmacht in die Psychiatrie gesteckt - wo er 1982 stirbt.

Der Große Terror
Kolyma, der äußerste Nordosten Russlands, ist der Kältepol des Gulag - mit den schlimmsten Lebensbedingungen und der höchsten Sterblichkeitsrate: Bei Temperaturen bis Minus 60 Grad Celsius entsteht hier zwischen 1937 und 1956 unter dem Namen "Dalstroj" ein Lagerkomplex von etlichen Millionen Quadratkilometern Größe, in dem zwischen 70.000 und 100.000 Häftlinge Gold abbauen. 1937, zur Zeit des Großen Terrors, als Warlam Schalamow nach Kolyma kommt, werden 12.000 Gefangene hingerichtet, die höchste Insassenzahl ist 1942 mit 177.000 erreicht. Schalamow arbeitet in Kohlegruben, im Schacht, beim Straßenbau, im Wald, er wird für so genannte "allgemeinen Arbeiten" herangezogen, nach diversen Aufenthalten im Lagerkrankenhaus ist er schließlich ein mehr oder weniger "privilegierter" Arzthelfer.

Soweit der Schauplatz dieser Erzählungen. Es sind nicht Sätze wie "Wir verstanden, dass der Tod kein bisschen schlimmer ist, als das Leben, und fürchteten weder das eine noch das andere" oder quasi politische Überlegungen über nie erfüllbare Arbeitsbedingungen und -normen (im sowjetischen Lagern mitunter tausend Mal höher als in der Katorga des Zarenregimes) - was diese meist fünf, sechs Seiten langen Geschichten ausmacht: Auch wenn es da einmal durchaus provokant heißt, "An den Toren der deutschen Lager steht ein Nietzsche -Zitat: 'Jedem das Seine'. Berija ahmte Hitler nach und übertraf ihn an Zynismus".

Quälender Detailreichtum
Bei Schalamow werden die kleinen Gesten und geringen Vorkommnisse monumental: Wie ein Heringskopf oder -schwanz verzehrt, die Gräten gekaut werden, ein Geschirr bis zum Boden ausgeleckt oder ein Stück Brot so lange im Mund herumgedreht wird, bis es sich in ein Bonbon verwandelt.

Abgesehen von der mangelhaften Ernährung muss in diesem Strafsystem, in dem die Kriminellen in Absprache mit der Lagerleitung regieren, alles Essbare ohnedies immer versteckt werden. Da wird genau beschrieben, wie Mithäftling einem anderen zuschauen, als der gierig isst - ein gewisser Wasska Denissow stiehlt ein Ferkel und verzehrt schließlich das gefroren Stück Fleisch in eine Ecke gekrümmt.

Schalamow erzählt das Ganze derart skurril, dass sich der Leser ob der Slapstickszene selbst geniert. Und mehr noch: Der Häftling Samjatin, der gerade noch auf einer einsamen, vom Frost überzogenen Waldeswiese sein Gebet verrichtet hat, wird sich am Ende seiner Erzählung übergeben - die Kriminellen der Baracke haben einen Welpen eingefangen, mit diesem soeben noch liebevoll gespielt, ihn kurzer Hand abgeschlachtete und zu Suppe verkocht und als Hammelfleisch "verkauft": "'Solche Schufte', sagte ich. 'Ja, natürlich', sagt Samjatin. 'Aber das Fleisch hat geschmeckt. Nicht schlechter als Hammel.'" Da ist der Leser auch geneigt, sich anzukotzen.

"Dochodjaga" zu sein, ein "Verrecker" oder "Kümmerling", einer "mit dem es dem Ende zu geht" - Synonym des "Muselmanns" im deutschen Konzentrationslager - war eine der Lagererfahrungen von Schalamow: völlige Entkräftung und Auszehrung.

Die bittere Realität der Lager
Weit von allen metaphysischen Spekulationen über die Einzigartig von Konzentrationslagern besteht Schalamows Kunst darin, in und von der Hölle zu erzählen, als handle es sich um eine bekannte Welt: Grobheit, allgemeines Misstrauen, jeder ist sich selbst der Nächste - es folgen alle Abstufungen an Verschlagenheit und Niedertracht, Verrat und Gewalt bis zu Mord und Totschlag.

Ein so genannten Zivilarbeiter, mit dem bezeichnenden Namen Serafim, ein Laborant, der sich aus Liebeskummer freiwillig in den Hohe Norden gemeldet hat, glaubt monatelang, dass die Gefangenen tatsächlich Verbrecher seien und spricht mit ihnen keine Wort - bis er aufgrund einer Unachtsamkeit Opfer des ganzen Systems wird. Er begeht Selbstmord. Dessen Beschreibung wird über eine Reihe von Fehlschlägen bis zu bitteren Showdown hinausgezögert. Das Ganze, wie immer bei Schalamow, mit äußerster Ökonomie der sprachlichen Mittel. Und es gibt hier auch harmlose Vorfälle wie etwa in der Erzählung "Die Krawatte", in der eine gewisse Marjusa Krjukowa dem Erzähler aus Dankbarkeit eine Krawatte stickt: das Kunstwerk gerät im letzten Moment in die Hände des Lagerleiters. Praktisch nichts ist passiert und doch ist eine Welt aus den Fugen geraten. Diese ist eigentlich nie wieder zusammenzufügen, es sei denn, der Autor heißt Warlam Schalamow.

Lauter vergiftete Momente
Egal ob da Wachsoldaten Häftlinge einfach erschießen oder die Hausgehilfin des Lagerleiters den Häftlingen mitunter freundlich zunickt - "Der Tag ist bald zu Ende, Jungs" - diese düsteren erzählerischen Dokumente über das sowjetische Lager machen nicht nur atemlos: es ist auch schwierig zu definieren, was hier eigentlich geschieht. Schalamow - der grundsätzlich zu jedem Tabubruch bereit war, erzeugt weder einfach Spannung, noch befriedigt er bloßen Voyeurismus. Eine seiner bitteren Formeln für diesen Zustand lautet: "Jeder Moment des Lagerlebens ist ein vergifteter Moment".

Ohne Zweifel gehört zu seinen wichtigen "Botschaften" - dass es sich beim Gulag um keine Form von "Besserungsanstalt handelt, als welche er von den Sowjets den eigenen Untertanen - und mit kräftiger Unterstützung von prominenten Autoren wie Maxim Gorkij ausländischen Besuchern verkauft wurde. Schalamow setzt dagegen die unangenehme Einsicht "Wenn wir überleben, werden wir einander ungern wieder sehen".

Ein Genre am Abgrund
Was diese Erzählungen darüber hinaus so bemerkenswert macht, ist der Umstand, dass mit den Mitteln traditionellen Erzählens das ganze Genre in den Abgrund geführt wird. Von der idyllisch anmutenden Naturbeschreibungen und dem immer wieder angeschlagene "Loblied" auf die Zirbelkiefer bleibt praktisch nichts übrig: "Erlischt das Feuer, dann beugt sich die enttäuschte Zirbel wieder weinend vor Kränkung und legt sich auf den alten Platz; der Schnee deckt sie zu." Nicht anders ergeht es der klassischen Tiergeschichte. Die Häftlinge verarbeiten einen zugelaufenen Schlittenhund ausnahmsweise nicht in eine zusätzliche Mahlzeit Essbares, füttern das Tier liebevoll, bis es schließlich von einem Wachsoldaten erschossen wird: Aus dessen Fell entstehen Handschuhe. "Die Einschusslöcher im Fell, so der Förster, hätten keine Bedeutung".

Jede dieser stellenweise mit Elementen des Essays versetzten Erzählung ist zugleich auch eine Anti-Erzählung: eine Genrebezeichnung, die Schalamow für den Großteil seiner Texte verwandte: Denn von einer Idee war er besessen, Traditionelles realistisches Erzählen zu überwinden, die es der ganze Tradition so genannte humanistischer Literatur nicht gelungen war, die Schrecken seines Jahrhunderts zu verhindern. In gewisser Hinsicht ist dieser Gedanke nichts anderes die Übersetzung von Theodor W. Adornos auf die Konzentrationslager der Nazis gemünzte Formel, wonach Gedichte nach Auschwitz zu schreiben, nicht mehr möglich sei.

Was die Übersetzung angeht, so trifft Gabriele Leupolds Schalamows Erzählduktus meist ziemlich gut - sieht man vom vorgeblich politkorrekten Zögern ab, "Dochodjaga" in Nazijargon zu übersetzen, oder schon recht "deutschen" Ausdrücken wie "Jungs" für "ribjata", von Unsäglichkeiten wie "Kochendwasser" oder flappsigem Jugendjargon a la "hingeflätzt".

Eine bemerkenswerte Leistung des Verlages Matthes und Seitz ist es jedenfalls, mit "Durch den Schnee" den Anfang für eine sechsbändige Ausgabe der Werke Schalamows gemacht zu haben: denn ohne Zweifel gehört Warlam Schalamow in eine Reihe mit Autoren wie Franz Kafka, Isaak Babel, oder Samuel Beckett.

Service

Warlam Schalamow, "Durch den Schnee, Erzählungen aus Kolyma 1", übersetzt von Gabriele Leupolds, Matthes und Seitz Verlag, ISBN 9783882216004