Jacques Sémelins Analyse
Säubern und Vernichten
Massaker und Völkermorde stehen im Mittelpunkt der Analyse des französischen Politikwissenschafter Jacques Sémelin. In seinem Buch "Säubern und Vernichten" zeigt er auf, wie Massaker buchstäblich angekündigt werden und wie man sie verhindern kann.
8. April 2017, 21:58
Der französische Politikwissenschafter Jacques Sémelin beschäftigt sich seit Jahren mit dem Phänomen der Massaker und Völkermorde. In seinem Werk "Säubern und Vernichten" zeigt er anhand der Ausrottung der europäischen Juden unter den Nazis, des Bürgerkriegs im zerfallenden Jugoslawien und des Stammesmassakers an den Tutsi in Ruanda die gemeinsamen Züge kollektiver Gewalt auf.
Ebenso sucht er nach Gemeinsamkeiten von Massakern und versucht schließlich, die Parallelen herauszuarbeiten. Somit möchte er auf zukünftige eventuelle Massaker aufmerksam machen.
Wunsch nach einer konfliktfreien Welt
Gemetzel und Schlächtereien an Wehrlosen ziehen sich als blutroter Faden durch die Menschheitsgeschichte. Mit immer neuer Fassungslosigkeit blickt die Welt auf Auschwitz, Srebrenica, Ruanda und Dafur. Sémelin unternimmt den Versuch, intellektuell in den Griff zu bekommen, was sich dem Vorstellungsvermögen regelmäßig entzieht. In seiner deprimierenden wie erhellenden Lektüre trägt er zusammen, was die Forschung über Ursprung und Ablauf organisierter Massenmorde weiß.
Seine Suche nach den Ursachen beginnt er bei der Individualpsychologie: "Der wahnhafte Wunsch nach einer konfliktfreien Welt, in der es keine Feinde gibt", ist für ihn einer der Hauptgründe, warum Menschen bereit sind, über die Angehörigen einer anderen religiösen, ethnischen oder politischen Gruppe herzufallen.
Täter versprechen sich politischen Nutzen
Doch damit aus der Bereitschaft Tat wird, spielen noch andere Faktoren mit. Sémelin nennt vor allem staatliche oder zumindest zentrale Lenkung. Das Massaker muss irgendjemandem politischen Nutzen versprechen - zur Ablenkung von einer Krise, zur Niederwerfung eines Aufstands, zum Umsturz.
Ist der Wille da, setzt ein vielschichtiger Prozess ein, den Sémelin detailliert beschreibt: Intellektuelle und Hetzmedien radikalisieren die Atmosphäre, das Ausland schaut besorgt, aber tatenlos zu, und schließlich fließt Blut. In Deutschland geschah das unter den mehr oder weniger gleichgültigen Augen der Bevölkerung, in Ruanda mit deren aktiver Mithilfe - die die Drahtzieher aber oft genug erzwingen mussten.
Möglichkeiten der Früherkennung
Aus der Analyse der Abfolge leitet Sémelin Alarmsignale für bevorstehende Massaker ab wie etwa die Entstehung von "Hassmedien", die Ausgrenzung einer bestimmten Bevölkerungsgruppe, die Entwicklung innerer Feindbilder. Da er wenig Hoffnung auf Interventionen von außen hegt, widmet er sich eher der Frage nach der Prävention. Möglichkeiten sieht Sémelin in der Warnung der denkbaren Opfer und in der Unterstützung öffentlicher Wortführer, die für Kooperation statt Konfrontation eintreten.
Für unerlässlich hält er "Erinnerungsarbeit": Wer Massengewalt verhindern wolle, dürfe den Tätern nicht die Interpretation der Geschichte überlassen - denn die Instrumentalisierung der Vergangenheit ist ein bewährtes Mittel zur Herrschaft.
Wissenschaftlich und informativ
Sémelins Buch ist keine abschließende Darstellung, sondern eher eine methodische Grundlage zur Weiterforschung, in manchen Passagen mehr für ein wissenschaftliches Publikum gedacht als für die große Öffentlichkeit. Auch die deutsche Übersetzung lässt wenig Bemühen erkennen, sozialwissenschaftlichen Jargon ins Allgemeinverständliche zu übertragen.
Gleichwohl ist "Säubern und Vernichten" eine informative und souverän argumentierende Annäherung an ein Phänomen, das bedrohlicher ist, als es aus der Perspektive einer befriedeten mitteleuropäischen Gesellschaft scheinen mag.
Buch-Tipp
Jacques Sémelin, "Säubern und Vernichten. Die politische Dimension von Massakern und Völkermorden", aus dem Französischen übersetzt von Thomas Laugstien, Hamburger Edition, ISBN 9783936096828
Links
Hamburger Institut für Sozialforschung - Säubern und Vernichten
Centre d'études et de recherches internationales - Jacques Sémelin
Online Encyclopedia of Mass Violence