Der Saft, der Kulturen prägt

Blutsverwandtschaften

Das Konzept der Blutsverwandtschaft ist kein Mythos, sondern ein reales Phänomen, das politische Ziele und Konsequenzen beinhaltet. In den verschiedenen Kulturen gibt es unterschiedliche Vorstellungen vom Entstehen dieser Blutszugehörigkeit.

Heute und hier neigt die Gesellschaft dazu, die Mythen des Blutes wie alte Märchen wahrzunehmen; wie überwundenen Aberglauben, der unsere Lebenswirklichkeit nur mehr peripher berührt. Da täusche man sich, schreibt James Bradburne, der Direktor des Frankfurter Museums für Angewandte Kunst. Gemeinsam mit Max Hollein, dem Leiter der Schirn Kunsthalle, veranstaltete Bradburne im Jahr 2002 die Ausstellung "Blut. Kunst, Macht, Politik, Pathologie".
Im Begleitbuch hieß es:

Es geht hier nicht um eine leere abstrakte Spekulation. Wenn Menschen glauben, dass eine bestimmte Abstammung, die Blutlinie, politische Macht und soziales Prestige legitimiert, dann ist es wichtig, nahe Verwandte zu heiraten, um das Blut rein zu halten. Und es zahlt sich auch aus, die Ahnenreihe in Form von Porträts, Medaillen, Stichen und Insignien öffentlich zur Schau zu stellen.
Unsere Vorstellungen von diesem besonderen Saft prägen unsere Lebensführung, unsere Partnerwahl, unsere Institutionen und unsere Kultur.

Beispiel Jugoslawien

Die Änderungen unterworfenen Vorstellungen davon, was Blut ist, welche Rolle es spielt und welche Eigenschaften es hat und überträgt, können für Abermillionen von Menschen sowohl Glück als auch Unheil mit sich bringen.

Nehmen wir den Jugoslawienkrieg: Die Zuschreibung "Kroate" oder "Serbe" konnte tödlich sein. Und ethnische Zugehörigkeit läuft ja auf so genannte Blutszugehörigkeit hinaus.

Das Recht der Staatsbürgerschaft
Wenn wir "teilweise gleicher Gen-Bestand" meinen, dann ist nach wie vor "Blutsverwandtschaft" das Wort dafür. Im Staatsbürgerschaftsrecht gilt zumindest in Österreich das "ius sanguinis", das "Recht des Bluts". In der Praxis heißt das beispielsweise: Ein in Österreich aufgewachsenes Mädchen ist nicht Bürgerin dieses Landes - und zwar weil sie blutsverwandt mit türkischen Eltern ist, die hier auf Dauer leben, allerdings mit türkischem Pass. Sozusagen qua Blut ist das hiesige Mädchen keine Hiesige.

So will es das "ius sanguinis". Ein Schelm, wer diese Regelung reichlich irrational findet; fast so irrational wie den einstigen Glauben, dass Kinder buchstäblich Blut ihrer leiblichen Eltern in den Adern hätten.

Das Blut stammt von der Mutter
Die Vorstellung vom "eigen Fleisch und Blut" ist übrigens keine Universalie der Menschheitsgeschichte.

In Kulturen Papua-Neuguineas existiert die Vorstellung, dass ein Kind aus dem Blut der Frau und dem Samen des Mannes geschaffen wird - schreibt die Göttinger Ethnologin Brigitta Hauser-Schäublin in einem Aufsatz über Blutsverwandtschaft:

Die männlichen und weiblichen Zeugungssubstanzen entfalten eine unterschiedliche Wirkung. Sperma gilt als diejenige Substanz, aus der Knochen und damit das Skelett entstehen. Das Blut der Frau erschafft die weichen Teile, Fleisch und Blut. Durch Zeugung und Geburt wird ein halbfertiges, halb väterliches, halb mütterliches Wesen geschaffen. Das Blut der Mutter und das Sperma des Vaters wirken ein Leben lang in seinem Körper weiter.

Gemeinsames Essen schafft Blutsverwandtschaft
Und in einer malaysischen Fischergemeinschaft kann Verwandtschaft auch über gemeinsames Essen von ein und demselben Herd konstituiert werden.

Nahrung vom selben Herd vermittelt den Menschen, die dort regelmäßig essen, das gleiche Blut. Selbst wenn es unterschiedlicher Herkunft ist. Es 'vergemeinschaftet' diese Menschen auf intime Weise und macht miteinander verwandt. Kinder ermahnt man deshalb, nicht außerhalb des eigenen Hauses und von anderen Kochstellen zu essen, da sie sonst Verwandtschaftsbeziehungen zu diesen anderen Häusern entwickeln und sich von ihrem eigenen Haus ablösen.

Mit diesen Beispielen will Hauser-Schäublin auf folgendes hinaus:

Blutsverwandtschaft bildet nicht einfach die Natur ab sondern ist eine soziokulturelle Ausgestaltung von Beziehungen, die als von der Natur verankert definiert werden. Blutsverwandtschaft ist ein Konzept, das politische Ziele und Konsequenzen beinhaltet, da es als unverrückbar definiert, wer miteinander verbunden ist und wer nicht, wer über- und untergeordnet ist.