Die Heimat namhafter Künstlerlegenden

Das Gutruf

Das unscheinbare Lokal in der Wiener Milchgasse, übrigens an jenem Ort, an dem das Haus stand, in dem Mozart bei der Familie Weber die "Entführung" schrieb, war jahrzehntelang Treffpunkt und Heimat namhafter Künstlerlegenden.

"Es ist eigentlich kein Lokal, es ist eine Höhle und diese Höhle ist heute verhältnismäßig komfortabel. Früher war da hinten ein Hinterzimmer, wo sich eine Partie verkrochen hat", so beschreibt Autor, Regisseur und ehemalige ORF-Generalintendant Thaddäus Podgorski Wiener Innenstadtlokal "Gutruf", das sich in der Milchgasse 1 gleich neben der Peterskirche im ersten Bezirk versteckt.

Von außen betrachtet, erinnert die schmucklose Glasfassade eher an einen aufgelassenen Friseursalon aus den 1970er Jahren als an einen Ort, der ab den frühen 1950er Jahren Heimstätte zahlreicher namhafter Künstler war, allen voran Helmut Qualtinger, und von dem aus "Geschichte", Geschichten und "G'schichtln" geschrieben, sowie für zahlreiche Gerüchte und pikante Bonmots im Wiener Szene, Kunst und Kulturleben gesorgt wurden.

Das Hinterzimmer und seine weltgeschichtliche Funktion

"Meine Theorie ist, dass die wirklich großen Entscheidungen, historischen Entscheidungen, in Hinterzimmern getroffen worden sind, in der Intimität. Im Hinterzimmer sitzt man ja nur mit seinen engsten Freunden, mit seinen engsten Gesinnungsgenossen. Ich glaube, dass in Hinterzimmern die großen Erfindungen gemacht wurden. Ich glaube, dass in Hinterzimmern wirklich die Zukunft der Welt ausgebrütet wurde und noch wird", meint Podgorski ergänzend und weist auf die geschichtliche Dimension dieses geheimnisvollen, versteckten Ortes hin.

In Wien gab es in der ersten Nachkriegszeit vier wichtige Hinterzimmer. Der Art Club traf sich im Strohkoffer, ein Keller unter der Loosbar, der seinen Namen dem burgenländischen Schilf verdankte, mit dem die Kellerwände austapeziert waren. Im Kohlenkeller von Otto Kobalek, einem Künstlerfreund von Helmut Qualtinger, saß die Szene auf den Kohlen, rauchte, trank Rum und gab sich existentialistisch. Bei einem dieser Zusammentreffen soll sogar einmal Jean Cocteau dabei gewesen sein und im Torbergstüberl, das Hinterzimmerzimmer der Marietta Bar (Fledermaus) von Gerhard Bronner, saß der Dichter Friedrich Torberg und hielt Hof und schließlich war da noch das Gutruf, das Hinterzimmer von Helmut Qualtinger.

Goldene Zeiten im Gutruf

Die bekannteste und in der österreichischen Öffentlichkeit wirksamste Geschichte, die ihren Ausgangspunkt im Gutruf hatte, ist wohl die Lebensgeschichte des Herrn Karl. Der gelernte Operettensänger und spätere Geschäftsinhaber des besagten Lokals, Hannes Hoffmann, der von allen genannte "Gutruf", wurde gemeinsam mit der Einrichtung des Lokals zum inspirierenden Vorbild für das Künstlerduo Carl Merz/Helmut Qualtinger und für den satirischen Monolog "Der Herr Karl". Er entstand am Höhepunkt des "Goldenen Zeitalters" im Gutruf, in der Urphase also, in welcher sich hauptsächlich Künstler, Literaten, Maler, Karikaturristen, Theaterleute, Originale aller Art und auch Überlebenskünstler trafen.

Der Kometenschweif vom "Quasi", alias Helmut Qualtinger bestand aus Künstlern wie den Bildhauern Fritz Wotruba und Alfred Hrdlicka, den Malern Friedensreich Hundertwasser, Josef Mikl und Markus Prachensky, Dichtern wie H. C. Artmann oder Reinhard Prießnitz, den Karikaturristen Erich Sokol, den Komponisten Gottfried von Einem, Schauspieler wie Kurt Sowinetz oder Erni Mangold, für lange Zeit die einzige Frau, die in dem vorwiegend männlich besetzten Lokal, akzeptiert, wenn nicht verehrt wurde.

Die nach den populären Marx Brothers benannten "Hubman-Brothers", Fotograf Franz und Sohn Axel Hubmann, dem Musiker Fatty George, der mit seinem Fattys Saloon am Petersplatz Nachbar vom Gutruf war und dem Allround-Musiker Uzzi Förster zählten zu den Gästen. Auch Otto Preiser und der Aufnahmeleiter zahlreicher Qualtinger Platten Jürgen Schmidt gingen im Gutruf ein und aus. Es entstanden im Gutruf einige Ideen für Plattenaufnahmen, die bei Preiser Records produziert wurden.

Er war's, der Präsident

Der Lokalbetrieb verlagerte sich oft in der schönen Zeit hinaus auf die Milchstraße, sehr zum Leidwesen, des damaligen Geschäftsführers Hannes Hoffmann, der, wie er vor seinen Gästen betonte, ohne Konzession Alkohol ausschenke. Einer seiner Gäste war aber auch Joschi Holaubek, der damalige Wiener Polizeipräsident, der es verstand, zur rechten Zeit die rechten Worte auszusprechen, wie etwa einmal gegenüber zwei Wiener Polizisten, die aufmerksam gemacht vom Lärm, der aus dem eigenartigen Greißler in die Milchgasse drang, Verbotenes witterten.

Holaubek kam aus dem Hinterzimmer, aus dem so genannten Intellektstüberl, "Was is’?" fragte er seine zwei Mitarbeiter, "Nix, Herr Präsident", antworteten die beiden Polizisten völlig erstaunt im Chor. "Na dann, da is’ alles in Ordnung." "Ja, Herr Präsident", es wurde salutiert und die Polizisten verließen das Lokal. Später geht Holaubek mit einer spektakulären Geiselnahme nicht nur bei den Gutrufianern in die Geschichte ein.

1971 gelang einem gewissen Walter Schurbisch die Flucht mit zwei weiteren Straftätern aus der Justizwachanstalt Krems-Stein. Die tagelange Geiselnahme endete nach schwierigen Verhandlungen unblutig, auch Schurbisch gab schließlich als Letzter auf, wobei Joschi Holaubek den entkommenen Häftling mit den legendären Worten empfing: "Komm her Walter, i bin’s, dein Präsident." In einem Interview mit Podgorski bemerkte der Polizeipräsident später dazu: "Ein Polizeipräsident hat keine Angst, er fürcht’ sich höchstens." Im Gutruf wurde gejubelt darüber, gejubelt.

Wo Godot wohnt

Verweigerungskünstler Otto Kobalek war auch ein Bewohner des Gutruf, vor allem einer, der dort nicht nur lebte, sondern auch überlebte. Die Kobalek-Steuer bestand aus dem Zwonek, also konkret zwanzig Schilling, die die Gäste dem auf Spenden angewiesenen Mann zahlten, das hielt Otto Kobalek nicht von seinen gefürchteten Kritiken und Beschimpfungen ab.

Er galt als Arbeiterdichter, konkret sind sechs seiner parodistischen Gedichte erhalten. Eines davon endet mit der theatralischen Geste: Und geht die Welt zu Grund - Ich liebe dich und die Partei und den Gewerkschaftsbund. Er galt auch als Schauspieler.

Nach einem Abend im Gutruf musste Teddy Podgorski Otto Kobalek ins Theater in die Liliengasse führen. Das Theater der Jugend gab eine Vorstellung von Samuel Becketts Stück "Godot". Otto Kobalek erscheint auf der Bühne, in der Hand wie so oft ein Plastiksackerl, in welchem er ein Exemplar eines Science-Fiction-Romans hielt, der jeweils im selben Jahr handelte, in welchem Kobalek gerade lebte, und sagt zu Schauspieler und Publikum: "Godot ist da. Sie müssen nicht mehr warten."

Helmut Qualtinger, selig über diese Geschichte, habe darauf hin Beckett selbst angerufen, welcher wiederum sehr glücklich gewesen sei und alle schön grüßen lasse, denn darauf habe er schon immer gewartet. Zum ersten Mal in der Geschichte der Literatur ist Godot erschienen.

Legendenbildung im silbernen Zeitalter

1969 brennt das Lokal aus, schlechte Zeiten für das Gutruf wurden befürchtet. Der Kometenschweif um Qualtinger wurde dünner, der "inner circle" vermischte sich mit einem Schuss mehr Bürgerlichkeit, Journalisten und Politszene sowie anderen Künstlerkreisen. Udo Proksch kehrte auch immer wieder vom Demel kommend in das winzige Lokal ein und brachte schließlich einen Erfinder aus dem 2. Stock desselben Hauses, Rudi Wein, in das Lokal mit.

Mit Wein hob sich das Lokal 1972 wieder wie Phönix aus der Asche und das silberne Zeitalter brach im Gutruf an. Wein führte den sagenumwobenen Club und somit die Möglichkeit ein, ganz nach dem fatalistischen Konzept nach undurchschaubaren Regeln Menschen im Lokal zu zulassen oder sie brüsk ins nächst gelegene Cafe Korb zu verweisen. Er trug damit weiter zur Mystifizierung jenes nach außen hin unscheinbaren Ortes in der Milchgasse bei. Eine der wenigen Frauen, die neben Erni Mangold, zur Gutrufianerin wurde und auch an Weins "Gesichtskontrolle" vorbei kam, ist die Kolumnistin Eva Deissen.

Das bronzene Zeitalter zeigt kulinarische Stärke

Bewegend ist auch die Geschichte des jetzigen Geschäftsführers Bernhard Chung. Er kam mit seinem Reispass der Volksrepublik China in einer achtwöchigen abenteuerlichen Reise für 150 Dollar von Kalkutta Anfang der 1970er in Wien an, wurde Koch im Gutruf und produziert dort seither chinesisch-indisch-wienerische Gerichte vom Feinsten.

Wenn in das Gulasch ab und zu eine Spielkarte fällt, darf man sich nicht wundern, denn die stammen vom ehemaligen Fleischer und Gast des Gutruf Kurti Freytag oder Magic Freytag, der als professioneller Zauberer jeweils die gewünschte Spielkarte auf die Decke zauberte.

Über all dem schwebt eine Maxime, die so unterschiedliche Geschichten und Persönlichkeiten im Gutruf Soziotop vereint: "Don't bore!" frei nach Billy Wilder, der übrigens, Gerüchten zufolge, einst noch als Samuel Wilder und junger Reporter auch einmal seinen Fuß in die "Thee-Handlung" setzte. Ob es stimmt? Jedenfalls wäre es eine gute Geschichte und die hat im Gutruf frei nach dem Prinzip "Sei niemals langweilig" in jedem Fall ihre Berechtigung.

Letztlich aber hat alles angefangen mit einer Familientragödie und mit der Tant' Leopoldin'. Leopoldine Gutruf, Tochter einer Fabrikbesitzerfamilie, hat 1906 mit dem letztem Rest des Familienvermögens die vornehme Delikatessenhandlung "English House L. Gutruf & Co" eröffnet, um von dort aus die feine Wiener Gesellschaft mit den feinsten Jams, Jellies, echten englischen Biskuits und feinen Teesorten zu verwöhnen. Leopoldine Gutruf ist die eigentliche Namensgeberin für diese zumindest für ein paar Jahrzehnte kreative Wiener Innenstadt-Zelle.

Hör-Tipp
Hörbilder, Samstag, 13. Septembber 2008, 9:05 Uhr

Mehr dazu in oe1.ORF.at

Buch-Tipp
Peter Allmayer-Beck, Thaddäus Podgorski und Herbert Völker, "Das Gutruf". Ein Hinterzimmer wird 100", Bibliophile Edition, Wien 2006, ISBN 3950205268