Ungewöhnlicher Blick auf die katalanische Stadt
Rebellisches Barcelona
Barcelona ist eines der beliebtesten Ziele für Städtetrips, doch die ausgelatschten Touristenpfade schrammen lediglich an der Oberfläche der katalanischen Hauptstadt entlang. Diese Meinung war Anlass für einen "anderen Reiseführer".
8. April 2017, 21:58
Hier, wo heute sündhaft teure Eigentumswohnungen zum Verkauf stehen, gab es bis vor nicht allzu langer Zeit ein besonneneres Projekt. Denn es scheint durchaus vernünftiger zu sein, einen leer stehenden gewöhnlichen Ort zu besetzen und bewohnbar zu machen, als weit über 300.000 Euro für 90 Quadratmeter zu zahlen, diesen Preis ein ganzes Leben lang abzuzahlen und das Ganze obendrein noch für normal und für einen unanfechtbaren Teil der heutigen Vernunft zu halten.
Iván Altimira ist Mitglied des Herausgeberkollektivs von "Rebellisches Barcelona" und hält mit seiner Meinung nicht hinterm Berg. Altimira erzählt, wie er am 7. April 1997 mit einer Gruppe junger Menschen aus dem Viertel Sant Andreu das soziale Zentrum "El Palomar" besetzt hat. Eine "Kafeta", eine Kaffeestube, wurde umgehend eröffnet als Treffpunkt für all jene, die sich "in einem nicht kommerzialisierten Raum" miteinander austauschen wollten. Es folgten eine Bibliothek mit Büchern, die in institutionellen Büchereien nicht zu finden waren, ein Infoladen und zahlreiche Workshops.
El Palomar
Fünf Jahre lang existierte El Palomar als ein Bezugspunkt im Viertel Sant Andreu, wo die Kritik der Erwerbsarbeit und die sexuelle Befreiung gepredigt wurden, und wo Künstlergruppen und freie Radioinitiativen ihren Standort fanden. Zu Ende ging es mit El Palomar im Zuge der Aktionen während des Gipfeltreffens des Europäischen Rates in Barcelona im März 2002.
Nachdem mehrere Räumungstermine durch den solidarischen Widerstand vieler Leute verhindert werden konnten, wurden wir schließlich in einer illegalen Nacht- und Nebelaktion von der Polizei vertrieben.
Das "Rebellische Barcelona" ist für Leserinnen und Leser nach Stadtvierteln gegliedert. Am Beginn jedes Abschnittes wird die Geschichte des jeweiligen Viertels skizziert. Auf einem Plan sind die näher beschriebenen Orte mit Nummern gekennzeichnet. In Essays werden diese Stadt-Orte mit Geschichten erfüllt.
Keine Fans von Gaudì
Eine Episode handelt von der Besetzung des Kinos Princesa in der Via Laietana 14, wenige Schritte vom Palast der Generalität - dem Sitz der Katalanischen Landesregierung - und der Stadtverwaltung von Barcelona entfernt. Die Besetzung des Kinos Princesa spielt vor dem Hintergrund mafiöser Immobilienspekulationen, in die allerhöchste Honoratioren der Stadt Barcelona verwickelt waren.
Dass die Interpretation des Erscheinungsbildes einer Stadt immer dem Betrachter überlassen ist, das zeigt der Totalverriss des touristischen Lieblingswahrzeichens von Barcelona, der "Sagrada Familia" von Antonio Gaudì. Gaudìs architektonischer Erguss wird als ein Sühnetempel, ein Ort der Resignation und der Täuschung abgetan.
Was das Gebäude infam macht, sind sein Sühnecharakter, die Verwandlung des Architekten in einen Heiligen und die unglaubliche Vermarktung seines Werks.
Blick von innen
Den Reiz des ungewohnt anarchischen Stadtführers "Rebellisches Barcelona" macht es aus, dass die Verfasser der Beiträge selbst die Handelnden in der von ihnen geschilderten Wirklichkeit der Stadt sind. Es sind die Hausbesetzer und Ideologen, die die flüchtige Geschichte der unterprivilegierten Stadtbewohner festgehalten haben.
Durch ihren Blick von Innen lernt man eine andere Seite des Touristen-Mekkas Barcelona kennen. "Rebellisches Barcelona" ist ein materialreiches, dichtes und informatives Buch, das jedoch ein etwas düsteres Bild der katalonischen Küstenstadt zeichnet.
Mehr zu Barcelona in oe1.ORF.at
Hör-Tipp
Kontext, jeden Freitag, 9:05 Uhr
Buch-Tipp
Manuel Aisa, Paco Madrid, und Dolors Marin, "Rebellisches Barcelona", aus dem Spanischen übersetzt von Horst Rosenberger, Edition Nautilus