Eric Hobsbawm über das "katastrophalste Jahrhundert
Zeitalter der Extreme
Helene Maimann hat 2007 mit Eric Hobsbawm über seine Kinderjahre, über Jazz und Rockmusik, über politische Leidenschaften, über die 1968er, über den Kommunismus und die Weltrevolution und über das Scheitern gesprochen.
8. April 2017, 21:58
Eric John Blair Hobsbawm, 1917 in Ägypten geboren, aufgewachsen in Wien, Jugend in Berlin, Studium im "roten Cambridge“, hat die österreichisch-ungarische Monarchie, das deutsche Kaiserreich, das britische Empire, das Nazireich und schließlich auch das Sowjetreich überlebt. Als der Kommunismus aus Europa mit der UdSSR verschwand, setzte sich der damals fast Achtzigjährige hin und schrieb sein großes Alterswerk: "Das Zeitalter der Extreme".
Helene Maimann: Professor Hobsbawm, Sie haben 80 Jahre des vergangenen Jahrhunderts miterlebt. Sie haben einmal gesagt: "Ich bin alt genug, um tausendjährige Reiche überlebt zu haben". Darunter war nicht nur das Nazireich, sondern - da Sie 1917 geboren worden sind - das alte Kaiserreich, das deutsche, das österreichische; das osmanische Reich, dann das Britische Empire, dann später alle Kolonialreiche und schließlich das Sowjetreich. Ziemlich viel für ein kurzes Jahrhundert. Sie haben es in einem Ihrer Bücher das "Jahrhundert der Extreme" genannt.
Eric Hobsbawm: Das sind erst einmal die Extreme des Todes und des Leidens. Das war das katastrophalste Jahrhundert - quantitativ gesehen - in der Geschichte. Zweitens natürlich die politisch-ideologischen Extreme. Das war ein Jahrhundert der religiösen Kriege, wenn auch die Religionen meistens weltliche, säkulare waren. Aber drittens, finde ich, war es das Jahrhundert der Extreme, indem die Paradoxa größer waren als je vorher. Einerseits die größten Leiden, die größten Kriege. Andererseits die riesigsten Fortschritte - in der materiellen Wirtschaft und im Niveau des Lebens der meisten Leute. Trotz dieser Millionen, Abermillionen Tode sind am Ende dieses Jahrhunderts drei Mal so viele Leute auf der Welt. Sie leben länger, sie sind größer, sie sind gesünder, und das zählt.
Und dazu kommt noch etwas, was ganz extrem ist, nämlich die ungeheure Beschleunigung der Geschichte in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts. So etwas war noch nie da, dass man innerhalb von zehn, zwanzig Jahren das erreicht, was früher Jahrhunderte gedauert hat. Materielle, kulturelle, gesellschaftliche Änderungen. Aus all diesen Gründen hab ich das eben das "Jahrhundert der Extreme" genannt.
Sie haben Ihre Kinderjahre in Wien verbracht, als dieses Jahrhundert noch sehr jung war. Welche Erfahrung konnte man damals als Wiener Kind machen in dieser zu Ende gehenden Donaumonarchie und in dieser jungen Ersten Republik machen, Erfahrungen, die man vielleicht sonst nirgendwo damals hat machen können?
Wenn ich daran denke, denke ich erst einmal daran, dass man in einer Katastrophe lebte. Dass die Leute um einen einfach ihre Welt verloren hatten. Dass eine ganze Welt verloren gegangen war. Meine Eltern und die anderen, wenn die sagten "im Frieden" oder "in normalen Zeiten", dann meinten sie vor 1914. Zweitens, dass trotz alledem sehr, sehr viel von der alten Monarchie übrig war. Es war noch immer möglich, in Pressburg zu arbeiten, in Wien zu leben, aus Brünn nach Wien in die Oper zu fahren. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurde es unmöglich, wurden die Grenzen wirklich.