Von Trumbauer bis Coltrane
Vom Jazz-Epigonen zum Stilisten
Der Jazz lebt von seiner Tradition. In vielen Jazzbiografien ist von Einflüssen der führenden Instrumentalisten durch andere Musiker die Rede. Ein Widerspruch zur Jazz-Maxime, dass jeder Musiker einen eigenen Stil haben sollte? Keineswegs.
8. April 2017, 21:58
Zu jenen Musikern der heutigen Szene, die sich am stärksten auf die Tradition beziehen, zählt der Trompeter Nicholas Payton. Er stammt aus New Orleans, aus jener Stadt, in der - so sagt man - vor etwa 100 Jahren der Jazz entstanden ist und in der auch einer seiner wichtigsten Vertreter, der Trompeter Louis Armstrong geboren wurde und seine Karriere begonnen hat.
"Soweit ich mich erinnern kann, ist Louis Armstrong immer ein Teil meiner musikalischen Erfahrungen gewesen, er ist die Verkörperung und der Gründer der Musik aus New Orleans", berichtet Nicholas Payton. "Sein Geist lebt in der Musik von heute weiter, sein Beitrag zur Musik hat mich wesentlich beeinflusst. Ich glaube weiter, dass alle Jazzmusiker direkt oder indirekt von Louis Armstrong beeinflusst sind. Er war der erste große Improvisator des Jazz und hat damit der Improvisation ihren heutigen Stellenwert, ihre Seele und ihr Herz gegeben".
Galionsfigur des Bebop
Zu den größten Improvisatoren des Jazz zählt auch der Altsaxophonist Charlie Parker. Er war Mitbegründer und Galionsfigur des Bebop und als solcher einer der einflussreichsten Jazzmusiker der Geschichte. Das Rüstzeug zu seiner Einzigartigkeit erhielt Charlie Parker in den 1930er - Jahren, indem er sein großes Idol, den Tenorsaxophonisten Lester Young, Ton für Ton kopierte - dasselbe hatte Lester Young davor mit der Musik des Chikago-Jazz-Saxophonisten Frank Trumbauer getan.
Diese Linie Frank Trumbauer (Chikago Jazz) - Lester Young (Swing, Cool) und Charlie Parker (Bebop) ist eines der besten Beispiele für die Weiterentwicklung des Jazz durch die Methode des Kopierens. Und eigentlich könnte man diese Linie noch weiter fortsetzen: denn John Coltrane hat sich in zu Beginn seiner Karriere intensiv mit der Musik Charlie Parkers beschäftigt - später war dann Coltrane federführend an der Entwicklung des Hardbop und auch des Free Jazz beteiligt.
Übervater des modernen Jazz
John Coltrane seinerseits wurde dann später zu einem der Überväter des modernen Jazz - zahlreiche Musiker, vor allem Saxophonisten, aber nicht nur, bezogen beziehungsweise beziehen sich bis heute auf ihn.
So sagte der kürzlich verstorbene Michael Brecker einmal in einem Interview mit dem Autor: "John Coltrane und sein Quartett (Anmerkung: jenes der 1960er Jahre mit McCoy Tyner - p, Jimmy Garrisson - b und elvin Jones - dr) waren der Hauptgrund, warum ich die Musik zu meinem Lebensinhalt gewählt habe. Ich hatte schon längere Zeit gespielt, aber als ich die Musik von John Coltrane entdeckte, da war ich 14 oder 15 Jahre alt, hat sie mich auf allen Levels erreicht, emotional, technisch, spirituell und intellektuell. Coltrane hat mir gezeigt, welche Kraft Musik haben kann, und sie packte mich derart, dass ich beschloss, Musiker zu werden. Das habe ich anderen Berufen, zum Beispiel jenem eines Arztes, vorgezogen".
Größen des Kontrabass
Auch der Saxophonist Dave Liebman beruft sich eindeutig auf den Einfluss John Coltranes, sein Spiel klingt aber ganz anders als jenes von Michael Brecker. Und der Kontrabassist Ray Brown sagte einmal "I only stole from the best" und meinte damit Slam Steward, Oscar Pettiford und Jimmy Blanton - drei wahre Größen ihres großen Instruments. Diese augenzwinkernde Selbstverständlichkeit, mit der Ray Brown das sagte, zeigt auf, dass dieses "Stehlen" etwas im Jazz völlig Normales und auch Richtiges ist, so lange man irgendwann seine Einflüsse hinter sich lässt und seinen eigenen Stil entwickelt.
Zu jenen Musikern der heutigen Szene, denen das am Besten gelungen ist, zählt der Gitarrist Pat Metheny - er beschäftigte sich in seiner Jugend vor allem mit der Musik von Wes Montgomery und Jim Hall: "Für mich war das Wichtigste zu versuchen, nicht so zu klingen wie irgendjemand anderer. Und ich denke, das ist heute die alte Schule. Denn ich denke, nach mir - chronologisch - wurde genau das immer weniger wichtig. Wenn ich an all die Musiker denke, die mich beeinflusst haben, für sie war der eigene Weg lang von entscheidender Bedeutung. Daher denke ich, dass ich die alte Schule repräsentiere, die darin besteht, seinen eigenen Klang zu entwickeln, eine eigene Stimme zu werden und eine Identität zu entwickeln, die nur du hast und das in Einklang zu bringen mit der großen Tradition unserer Musik".
Hör-Tipp
Radiokolleg, Montag, 29. Oktober bis Mittwoch, 31. Oktober 2007, 9:45 Uhr